Das Gesetz von Ta-Shima: Roman (German Edition)
ist eine Kampfverletzung.«
Die Jestak presste die Lippen aufeinander und fuhr mit ihrer Arbeit fort. Der Mann bewegte sich nicht, doch auf seiner Oberlippe sammelten sich feine Schweißperlen.
»Tut das weh?«, fragte die Jestak.
»Ja ... nein, Jestak Adaï.«
»Ich spreche in meiner Eigenschaft als Medizinerin und möchte gerne eine präzise Antwort.«
»Ja, es tut weh. Das geht nicht wieder zu, oder?«
»Nein. Ich muss jeden Tag ein Stück totes und zusätzlich ein bisschen gesundes Gewebe entfernen. Tut mir sehr leid, aber wie ich dir bereits sagte – es bleibt schließlich nur die Amputation.«
»Ja, das hast du mir schon gesagt. Ich möchte raus aus dem Krankenhaus.«
»In meiner Funktion als Ärztin muss ich dir davon abraten. Als Shiro allerdings verstehe ich dich und befürworte es.«
Ärztin und Patient sahen sich an. Lara hatte den Eindruck, dass sie irgendeine stumme Botschaft austauschten. Sie hätte gern gefragt, worum es ging, aber der Gesichtsausdruck der Jestak hielt sie davon ab.
Schließlich verließen sie das Zimmer.
Während der Visite wechselten sie nur ein paar Worte, die ihre Arbeit betrafen. Nach der Krankenbehandlung im Hospital gab es noch eine ambulante Sprechstunde. Viele Patienten waren zu versorgen: ein paar Arbeitsunfälle, viele Schwangerschaftstests, Anfragen nach genetischer Kompatibilität im Falle einer Empfängnis und zwei Erkrankungen, die vor dem Exodus sehr häufig gewesen waren. So stand es jedenfalls im Geschichtsbuch.
Alles war neu und sehr interessant für Lara. Nachdem Visite und Sprechstunde zu Ende waren, bedauerte sie es beinahe. Sie bedankte sich bei der Ärztin, die ihr lächelnd erklärte:
»Ich bin es, die sich bedanken muss. Du hast mich gut unterstützt. Die meisten Helfer verbringen die Hälfte ihres ersten Tages damit, sich zu übergeben. Ich werde mit der Mutter deines Clans sprechen und darum bitten, dass du regelmäßig im Lebenshaus hilfst.«
»Wirklich? Das wäre großartig!«, rief Lara, als sie an die andere lästige Arbeit dachte, die ihr dann erspart bliebe: den Garten umgraben, Geschirr abwaschen, Böden wischen, Toiletten putzen. Und das alles unter dem kalten Blick eines Erwachsenen aus demHuang-Clan, der stets bereit war, zu kritisieren und zu bestrafen.
Bevor die Ärztin es sich anders überlegen konnte, fuhr Lara rasch fort: »Es wäre eine Ehre für mich, Frau Doktor. Ich würde mein Bestes geben.«
Und als sie bemerkte, dass die Ärztin gut gelaunt war, fügte sie hoffnungsvoll hinzu: »Darf ich dich noch etwas fragen? Der alte Shiro ... warum heilt seine Wunde nicht?«
»Weil er schon uralt ist. Wir haben die Dauer des Lebens gegenüber der Zeit vor dem Exodus verlängert, aber Wunder vollbringen können wir nicht. Irgendwann kommt der Zeitpunkt, an dem die Organe und Zellen einfach nicht mehr so funktionieren wollen, wie sie sollten. Eine Kleinigkeit hier, eine Kleinigkeit da, aber es läppert sich. Es ist so, als hätte der Körper beschlossen, nicht mehr mit den Ärzten zu kooperieren.«
»Der Mann will aus dem Krankenhaus, weil er glaubt, du könnest nichts mehr für ihn tun?«
»Nein. Er will aus dem Krankenhaus, weil er nicht akzeptiert, dass ich in seinem Fall nur noch eine Sache tun kann. Es gibt nur ein einziges Heilmittel, das so alt ist wie die Geschichte der Medizin und sehr brachial: Man müsste seinen Arm amputieren. Vor dem Exodus waren wir in der Lage, bewegliche Prothesen herzustellen, aber die Biomechanik ist eine Wissenschaft, die wir aus den Augen verloren haben. Er müsste also ohne seinen rechten Arm leben, und in seinem Alter – er hat bereits mehr als hundert Trockenzeiten hinter sich – wird er sich nicht mehr daran gewöhnen können. Und er wäre nicht mehr selbstständig. Das will er nicht. Deshalb zieht er es vor, sein Shiro-Privileg geltend zu machen.«
»Was ist das?«
»Wie viele alte und behinderte Shiro gibt es im Haus deines Clans?«
»Hm ... keinen, glaube ich. Jedenfalls habe ich nie einen gesehen.«
»Hast du dich nie gefragt, warum das so ist?«
»Ich habe nie darüber nachgedacht. Wie kommt es denn?«
»Unser Leben ist sehr lang, viel länger als das der Asix und sehr viel länger als vor dem Exodus. Auch das Alter kann sehr lange dauern – Jahre, in denen man nicht mehr arbeiten muss. Jahre, in denen wir vielleicht nicht mehr in der Lage sind, uns selbst zu helfen. Dann wären wir eine Belastung, die weder der Clan noch die Spezies tragen könnte. Ist dieser Augenblick
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