Das Gesetz von Ta-Shima: Roman (German Edition)
Drachen« hatten die heranwachsenden Huangs sie genannt, wenn sie sicher waren, dass niemand sie hören konnte.
Die Versammlung des Rates zog sich bis tief in die Nacht hin. Es war zu spät, um noch nach Niasau zu gehen. Suvaïdar verging fast vor Ungeduld. Kaum im Haus des Clans angekommen, begab sie sofort zu Odas Zimmer.
Es war schon spät, und alle schliefen. Im Haus war es dunkel; nur ein paar kleine Ölpapierlampen spendeten schwaches Licht für die Nachzügler und diejenigen, die erst spät von der Arbeit kamen, für die Küchen, in denen man bereits das Brot für den nächsten Tag vorbereitete oder wo ein Topf mit Gemüseragout schon auf dem Feuer stand und vor sich hin köchelte. Das Haus war leer. Nur ein oder zwei unausgeschlafene Asix machten spärlich bekleidet eine Runde durch die Küchen, weil sie Appetit auf einen kleinen Imbiss hatten.
Suvaïdar rief leise den Namen ihres Bruders und klopfte an die Tür, die sich sogleich öffnete.
»Es tut mir leid. Hast du geschlafen?«, fragte sie ihn, als sie ihn nackt und mit zersausten Haaren sah.
»Das macht nichts. Was ist los?«
»Ich möchte morgen nach Niasau gehen, um mit den Fremden zu sprechen. Es wäre schön, wenn du mich begleiten würdest.«
»Hältst du das für eine gute Idee? Die Hälfte des Clans beobachtet dich, weil man herausfinden will, ob du dich in der Fremde von der Mentalität der Außenweltler hast anstecken lassen. Wenn ich dir einen Rat geben darf – es wäre nicht gut, würde man dich auf der anderen Seite der Brücke antreffen.«
Sie erzählte ihm, was vorgefallen war, und fuhr fort:
»Genau deswegen bitte ich dich, mich zu begleiten. Wenn ich einen vorbildlichen Shiro an meiner Seite habe, ist das doch eine Garantie dafür, dass ich nichts unternehmen werde, was gegen unser Gesetz ist.«
»Wenn du meinst, das reicht aus, irrst du dich. Aber ein Versuch, mit ihnen zu reden, kann nichts schaden. Wir werden uns in unsere Mäntel hüllen und das Gesicht maskieren. In Niasau verstecken fast alle Shiro ihr Gesicht. So fallen wir nicht auf. Hoffen wir nur, dass uns nicht zu viele sehen, wenn wir uns der Brücke nähern.«
»Lass uns sofort nach der Arbeit dorthin gehen. Dann sind weniger Passanten unterwegs, und fast alle sind auf dem Nachhauseweg. Auf der Brücke werden dann nicht allzu viele Leute sein.«
Suvaïdar kehrte in ihr Zimmer zurück und streckte sich auf der Matte aus, aber sie konnte nicht einschlafen. Sie wälzte sich von einer Seite auf die andere und fragte sich die ganze Zeit, welche Vorteile der Bur-Clan davon gehabt haben mochte, den Außenweltlern dabei zu helfen, sich Haridar und ihrer beiden Söhne, Sorivas und Wang, zu bemächtigen. Im Übrigen wäre es wohl angebrachter, von den Spezialkräften Neudachrens zu sprechen, statt von den Außenweltlern, denn man konnte nicht alle Fremden in einen Sack stecken, wie ihre Landsleute es immer wieder gern taten.
Über Sorivas wusste sie praktisch gar nichts. Er war viel jünger als sie und stand noch unter der Ägide eines Tutors aus dem Gantois-Clan, als sie Ta-Shima verlassen hatte. Und was Wang betraf, war er für niemanden eine Gefahr, auch wenn er damals noch ein Junge gewesen war. Er hatte an nichts anderes als an das Training in der Akademie gedacht, oder er steckte ständig in der Hütte, in der Daïni mit ihren Bälgern lebte, die sie von ihm hatte. Das hatte das Misstrauen des ganzen Clans auf sich gezogen. Der Clan konstituierte daraufhin ein zweites Exempel (bei Suvaïdar war es das erste), das die alte Huang initiierte. Sie wollte auf diese Weise deutlich machen, dass es eine schlechte Idee war, das System der Vorfahren zu unterlaufen, indem man Kinder zu lange bei einer Asix-Pflegemutter ließ. Doch wen hätte er in den Schatten stellen können, dieser unbegabte junge Mann, der mit der Schule aufgehört hatte, weil er nicht im Mindesten den Anforderungen gerecht werden konnte und für den Rest seines Lebens der letzte Assistent des Assistenten des Clan-Agronoms gewesen wäre.
Schon vor dem Morgengrauen stand Suvaïdar auf, um rasch ihre Arbeiten im Haushalt zu erledigen. Während fast alle anderen noch schliefen, brachte sie mehr als hundert Betttücher in die Waschküche und weichte sie in zwei großen Becken ein, die den ganzen Tag dem Sonnenlicht ausgesetzt sein würden. Sie rieb drei große Seifenkrautwurzeln und gab diese ebenfalls ins Wasser. Etwas später stellte ein Asix die Waschmaschinen an: große Räder mit drei Flügeln aus Holz,
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