Das Gesetz von Ta-Shima: Roman (German Edition)
nur besonders freundlich sein, aber es war nur allzu leicht zu durchschauen.
Auch andere müde Arbeiterteams gingen nach Gaia. Es war bereits tiefe Nacht, als sie zu Hause ankamen. Alle fielen auf ihre Matten, ohne zuvor das Laken daraufzulegen. Sie alle wussten, dass vor dem Morgengrauen der Gong sie wecken würde und ihnen ein neuer, ebenso anstrengender Tag bevorstand. Der Westwind, der im Augenblick noch in Böen wehte, bevor er sich in einen Orkan verwandeln würde, machte Mensch und Tier unruhig. Trotz der Müdigkeit schliefen alle schlecht, wachten zwischendurch auf und horchten mit einem Ohr, ob das Rascheln der Zweige sich bereits in einen Schrei verwandelt hatte – das Zeichen, sich zu beeilen, schnellstens das Federvieh einzusammeln und in die Keller zu bringen, denn der Wind konnte alles fortreißen, bis auf die nackten Mauern der Häuser.
2
Außenwelt
Nach vier Stunden
im OP war Suvaïdar verspannt und versuchte, ihre Schultern zu lockern. Sie fragte sich, wie die Chirurgen damals in den dunklen Jahrhunderten, als sie sämtliche Eingriffe noch mit der Hand vornehmen mussten, ihre Aufgabe bewältigt hatten. Sie verweilte einen Moment, um das Panorama in Augenschein zu nehmen, das sie durch ihr Bürofenster sehen konnte. Ein Anblick, an den sie sich in den vergangenen acht Jahren nicht so recht gewöhnen konnte: Die Sonne ging unter – eine freundliche und wohlwollende Sonne, keine Mörderin wie die auf ihrem Heimatplaneten – und tauchte mit ihrem Schein die Scheiben der Wohntürme und Wolkenkratzer in gutrotes Licht. Die Hochhäuser erstreckten sich, so weit das Auge reichte, unterbrochen von oberirdischen Gleisbögen. In den weitläufigen und belebten Straßen des Zentrums funkelten die Leuchtschilder von Bars, Restaurants und Geschäften. Sie boten Zerstreuung, Inspiration und Einkaufsmöglichkeiten, aber auch Sünden und Laster jeder Art. Auch wenn es sich bei Wahie um einen externen Planeten handelte, weit entfernt von Neudachren, wo sich der Stammsitz der Zentralregierung befand, war er doch – im Vergleich zu Suvaïdars Heimatplaneten – nicht weniger beeindruckend.
Die Ärztin betrat die Umkleideräume, ohne einen Blick für das elegante Mobiliar und die Wanddekorationen zu haben: Die bunten Luftblasen aus Kunststoff, die sich aufblähten und dann wieder Luft abließen, hatte sie von ihrem Vorgänger geerbt. Sie zog ihre Gummisohlen-Sandalen aus, um ein Paar mit Sohlen aus Seran überzustreifen – ein künstliches, leichtes, glänzendes Material –, gestützt von zwanzig Zentimeter hohen Platten. Für Suvaïdar waren diese Schuhe immer noch das reinste Folterinstrument, doch die Frauen auf diesem Planeten trugen sie auf ganz natürliche Weise und bewegten sich damit grazile und anmutig.
Suvaïdar zog ihre Bluse aus. Während sie sich mit dem Oberteil ihres Kleides beschäftigte, dessen Verschlusssystem ein wahres Geduldsspiel für sie war, hörte sie es an der Tür klopfen.
Auf ihr »Herein« vernahm sie eine Männerstimme, die in der singenden Betonung der Hochsprache fragte:
»Suvaïdar Huang to Narufeni?«
Sie stürzte aus der Umkleide, ohne zuvor mit allen Knöpfen, statisch geladenen Riemen und anderen bizarren Erfindungen fertig geworden zu sein. Da war jemand an der Tür, der sie mit ihrem vollständigen Namen angesprochen hatte, den keiner auf Wahie kannte! Als sie vor acht Jahren hierhergekommen war, fest entschlossen, sich von der Vergangenheit zu lösen und Ta-Shima und dessen strenge Regeln hinter sich zu lassen, war sie zum ersten Mal im Leben von lauter Fremden umgeben gewesen. Damals hatte sie aus einem Reflex heraus nur den Namen ihres Clans angegeben, Huang to Narufeni, Muttername und Vatername, nicht aber ihren persönlichen Erwachsenennamen – Suvaïdar –, den man ihr in einer Zeremonie zur Feier ihrer Mündigkeit zugesprochen hatte, und schon gar nicht ihren Kindernamen – Lara –, mit dem ihre Asix-Pflegemutter sie damals anzusprechen pflegte. Später schien es ihr nicht mehr nötig, das Ganze zu korrigieren, und die Kollegen, mit denen sie befreundet war, nannten sie einfach nur Huang oder To, was in ihrer Sprache so viel wie »und« bedeutete.
Auf der Schwelle standen ein Mann und eine Frau, deren hohe Statur, der amberfarbene Teint, die glatten, schulterlangen Haare und die Samthände sie eindeutig als Shiro identifizierten. Einen Schritt hinter ihnen wartete ein junger Mann, der ihnen nur bis zur Schulter reichte und dessen Nase erkennen ließ, dass
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