Das Gesetz von Ta-Shima: Roman (German Edition)
auf einen möglichen Notfall reagieren zu können. Sie gab rasch die Koordinaten des Ortes ein, an dem sie sich befand; dann meldete sie: »Notfall, Asix-Kind von zwei Shiro schwer verletzt.«
»Notruf empfangen«, antwortet man ihr. »Luftmodul geht raus, Start sofort.«
Nicht einmal eine Minute soäter war das beruhigende Surren des Luftmoduls zu hören. Suvaïdar seufzte vor Erleichterung. Sie war sich nicht sicher gewesen, dass sie ihre Autorität – die sie zu ihrem eigenen Erstaunen spontan unter Beweis gestellt hatte – noch viel länger hätte aufrechterhalten können.
»Der Kleine hat eine Oberschenkelfraktur«, erklärte sie den Asix-Hilfskräften. »Ich werde ihn in das Lebenshaus begleiten. Einen von euch brauche ich, um den Jungen daran zu hindern, abzuhauen. Wir bringen ihn ins Haus des Sobieski-Clans – wenn es sein muss, mit Gewalt. Er ist ein Krimineller.«
»Ich werde nicht fliehen«, erklärte der Jugendliche steif, »ich bin volljährig und verantwortlich für meine Taten. Und ich habe es nicht nötig, begleitet zu werden. Ich werde sofort beim Rat unseres Clans vorstellig werden.«
»Freut mich, dass du dich daran erinnerst, ein verantwortlicher Erwachsener zu sein«, sagte Suvaïdar. »Trotzdem werde ich dich begleiten. Das Wort eines erwachsenen Shiro würde ich ohne Zögern akzeptieren, aber nach dem, was ich gesehen habe, seid ihr beide, du und dein Freund, keine Shiro, oder ihr seid nicht erwachsen. Gib mir dein Messer.«
»Shiro Adaï!«, rief der Junge schockiert.
Alle Ta-Shimoda erhielten ein Messer, wenn man sicher war, dass sie es in der Hand halten konnten, ohne sich selbst einen Finger abzuschneiden. Kein Ta-Shimoda konnte sich vorstellen, ohne seine Waffe das Haus zu verlassen.
»Du wirst es nicht mehr brauchen«, antwortete Suvaïdar, immer noch wütend. »Glaubst du vielleicht, man würde dir erlauben, einen kleinen Spaziergang zu machen?«
An Bord der Luftmodule begann sie mit der Erstversorgung des Asix-Jungen, der völlig verschreckt wirkte. Vergeblich versuchte sie, ihn zu beruhigen. Nachdem der Pilot die Koordinaten des Hospitals eingegeben und die automatische Steuerung eingestellt hatte, hockte Suvaïdar sich neben die Trage und flüsterte dem Asix-Jungen zu:
»Alles wird gut, Kleiner. Ich war wütend, aber nicht auf dich, du hast nichts Schlimmes getan.«
Dann begriff sie, dass der Kleine sich vor ihr fürchtete. Erst jetzt bemerkte sie, dass die unbändige Wut, die immer noch in ihr wütete, ihre Hände zittern ließ, und dass ihr Gesichtsausdruck alles andere als eine beruhigende Wirkung haben musste. Ihr wurde klar, dass sie unter diesen Bedingungen nicht in der Lage war, das gebrochene Bein des Jungen zu richten.
Suvaïdar ergriff ihren Kommunikator, um den Code von Saïda einzugeben. Ungeduldig trommelte sie auf ihr Knie, als sie auf Antwort wartete. Fünf Sekunden vergingen, sechs ...
Schließlich hörte sie seine Stimme, ruhig und professionell.
»Reomer Jestak, ich höre.«
»Oberschenkelfraktur mit Ausrenkung und wahrscheinlich gesplittert, minderjähriger Asix«, informierte sie ihn. »Ich vertraue dir den Fall an. Wir sind in wenigen Minuten am Lebenshaus.«
»Ay, Jestak Adaï«, antwortete ihr eine verblüffte Stimme. »Auf welchen Namen soll ich den Operationssaal und die Geräte reservieren lassen?«
»Ich bin es, Suvaïdar. Hast du mich nicht erkannt?«
»Lara? Du hast eine so merkwürdige Stimme. Ist irgendwas passiert?«
»Beschäftige dich bitte mit dem Patienten«, erwiderte sie. Doch sofort bereute sie ihre spröde Antwort und fügte hinzu: »Ich werde es dir später erzählen.«
»Ay, ich bin schon fast am Eingang des Modulenbereichs. Wenn ihr kommt, ist alles fertig.«
In der Tat stand Saïda auf der Schwelle des Lebenshauses, mit einem Wagen auf einem Luftkissen und einer Asix-Hilfskraft zur Unterstützung. Vorsichtig hoben sie die Trage des Moduls an, um sie auf den Wagen zu stellen. Saïda hatte einen Saal mit einem Holo-Endoskop reservieren lassen. Doch bevor er mit den Untersuchungen begann, schnitt er die Hose des Jungen vorsichtig der Länge nach auf. Er sah den geschwollenen Oberschenkel und ein großes Hämatom, das sich von der hellen, noch vom dünnen Kinderflaum bedeckten Haut deutlich absetzte.
»Ich habe ihm unterwegs ein Standard-Analgetikum verabreicht«, sagte Suvaïdar. »Kümmere du dich jetzt bitte um ihn, ich bin nicht in der Verfassung. Mein Zorn ist zu groß. Ich könnte dir höchstens
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