Das Gesetz von Ta-Shima: Roman (German Edition)
gebissen worden war, die Wunde nähen. Ich habe niemals wieder so viel Angst um mein Leben gehabt. Sie standen alle um mich herum, und ich hatte den unmissverständlichen Eindruck, dass sie meinen Kopf in eine Dekoration verwandelt hätten, wäre der Junge unter meinen Händen gestorben. Sie tun das wirklich! Sie finden, dass abgeschnittene Köpfe ein Beweis für die Männlichkeit und Tapferkeit eines Mannes sind.«
Als sie daran dachte, fröstelte sie. Saïda blickte sie nachdenklich an.
»Du glaubst, man schickt mich absichtlich dorthin? Die Alte ist Traditionalistin. Ich konnte nur deshalb Medizin studieren, weil ich mit dem Namen R. Jestak eingeschrieben habe. Ich hatte exzellente Noten, und sie hat der Einschreibung zugestimmt, ohne sich vorher darüber klar geworden zu sein, dass das R. für Reomerstand und nicht für Rovin. Sie hat nie versucht, ihre Unterschrift zurückzunehmen, um ihr Gesicht nicht zu verlieren, aber ich befürchte, sie hat es mir nie verzeihen können.«
Selbst eine Shiro-Matriarchin kann nicht so niederträchtig sein, sagte sich Suvaïdar. Obwohl ... Sie würde gleich am nächsten Tag mit ihr sprechen.
22
Bevor Suvaïdar von
der Saz Adaï Jestak empfangen wurde, musste sie ein paar Stunden in einem stillen Vorzimmer warten. Das zerrte an den letzten Reserven ihrer Geduld, mit der die Natur – oder die von einer Ahnherrin jener Frau, die sie jetzt um ein Gespräch ersucht hatte, manipulierten Enzyme – sie ausgestattet hatten. Schließlich durfte sie eintreten. Seitdem Suvaïdar die Saz Adaï das letzte Mal gesehen hatte, war sie sichtbar gealtert: Faltig wie eine Asix, ganz weiße Haare. Sigrid Jestak musste am Ende ihres langen Lebens stehen.
Doch das Alter hatte sie nicht weicher gemacht; sie erwies sich als ebenso barsch wie die alte Huang. Ohne Suvaïdar freundlich willkommen zu heißen, schoss es aus ihr heraus: »Was ist?«
»Ich bin Suvaïdar Huang, Chirurgin im Lebenshaus. Bis vorgestern war Reomer Jestak mein Assistent, und ich habe darum gebeten, dass er zum Arzt ernannt wird. Ich habe gehört, dass er mit dem Amt im zweiten Gesundheitszentrum, Corosaï-no-goï, beauftragt worden ist. Ich möchte dich bitten, diese Entscheidung rückgängig zu machen.«
»Nein«, war die knappe Antwort der Alten.
»Ehrwürdige Mutter, ich habe zwei Jahre im zweiten Gesundheitszentrum verbracht, und ich bin fest davon überzeugt, dass die Arbeit dort für einen Mann sehr gefährlich wäre. Ich bin sicher, dass du mit Maria Adaï darüber sprechen ...«
»Maria hat diese Entscheidung selbst getroffen. Du kannst gehen. Auf Wiedersehen.«
Schroff hatte die Alte ihr das Wort abgeschnitten. Und für dieses enttäuschende Gespräch hatte Suvaïdar die freien Stunden dieses Tages vergeudet, sah man von der Zeit ab, die sie für Körperwäsche, Essen und Schlafen verwendet hatte – auf jeden Fall zu wenig zwischen zwei Zwölfstundendiensten.
Als sie am nächsten Morgen das Lebenshaus erreichte, fühlte sie sich nicht besonders gut, und während der ersten Hälfte des Tages war sie zu beschäftigt, um die Zeit zu finden, nach Maria zu suchen.
Zu ihrer großen Überraschung hatte man Maria in die Notfallabteilung versetzt. Als gute, bescheiden gebliebene Chirurgin konnte Suvaïdar bestätigen, dass Maria zu den Besten gehörte. Sie hatte stets eine lange Liste von Eingriffen auf dem Programm, und für gewöhnlich überließ man die Notfallabteilung jungen Diplomierten oder Assistenten, die stets eine Ärztin zu Rate ziehen konnten, die auf eine längere Erfahrung zurückblicken konnte.
Zwei Module kamen kurz hintereinander mit drei schweren Fällen an. Bei dem ersten handelte es sich um einen Asix, der mit nacktem Oberkörper im Freien gearbeitet hatte, wie es seine Artgenossen, die trotz ihrer hellen Haut Sonnenstrahlen gegenüber unempfindlich waren, es oft taten. Dabei war er ausgerutscht und zu seinem Leidwesen zu nah am Schlupfloch eines Skorophons zu Boden gefallen. Seine Schreie hatten einen seiner Begleiter herbeigerufen. Der hatte den Skorophon geköpft, doch die giftige Schere und der kleine Kopf mit seinen scharfen Knochen – so scharf wie die Zähne eines Hundes – waren in der Flanke des armen Mannes steckengeblieben. Nun wand er sich vor Schmerz und presste die Zähne aufeinander, um vor einer Shiro nicht laut zu klagen.
Suvaïdar verabreichte dem Asix ein Schmerzmittel und eine hohe Dosis eines Antibiotikums. Sie war gezwungen, die Wunde tief aufzuschneiden, um das
Weitere Kostenlose Bücher