Das Gesetz von Ta-Shima: Roman (German Edition)
Valdez einmal einen seiner berühmten Späße machte und die ungeschickte Ausdrucksweise Tarrs nachzuahmen versuchte, reagierte dieser seelenruhig. »Du besuchst die Akademie des inneren Friedens, nicht wahr, junger Herr?«, sagte er. »Ich würde gern mal einen Blick hineinwerfen. Ich hoffe, du gibt mir die Ehre, mit mir zu üben.«
Natürlich war Ingvar einverstanden. Sie verabredeten sich für den nächsten Tag.
»Bist du verrückt geworden, Tarr?«, fragte Lara ihn besorgt, nachdem Ingvar gegangen war. »Er ist ein ausgezeichneter Fechter!«
»Ich auch«, erwiderte Tarr lakonisch.
Lara hätte bei dem Treffen gern assistiert, aber das wollte Tarr nicht. Am nächsten Abend im Bad schaute sie sich klammheimlich den kräftigen Körper ihres Bruders an. Sie entdeckte weder Blutergüsse noch rote Striemen. Offenbar hatte Tarr sich wacker geschlagen. Lara und war beruhigt.
Die Tage vergingen schnell. Es gab Prüfungen, dann die Arbeit auf den Feldern vor der Trockenzeit, die so anstrengend war wie immer. Anschließend tobte acht Tage lang ein Unwetter, das den Wechsel der Jahreszeiten einläutete. Dabei wurden die Häuser beider Clans schwer beschädigt. Eine Windhose zog von Westen nach Osten mitten durch die Stadt und verwüstete Obstplantagen und Gemüsegärten, ehe sie abrupt die Richtung änderte. Das Haus der Sadaï verschonte der Sturm, aber vom Gemeinschaftssaal des Huang-Hauses riss er das Dach herunter.
Nachdem der Tornado sich beruhigt hatte, waren in den nächsten zwei Wochen alle damit beschäftigt, die Schäden in mühsamer Nachtarbeit zu reparieren. Die Berater der Sadaï stellten Arbeiterkolonnen zusammen, die jenen Clans helfen sollten, deren Güter von der Zerstörungskraft der Windhose besonders betroffen waren. Als endlich alle Dächer repariert und befestigt waren,übertrugen die Clans den Jungen den Auftrag, die Häuser nach überflüssigen Utensilien zu durchsuchen und diese zu beseitigen. Die Orkane der letzten Jahrhunderte hatten die Ta-Shimoda gelehrt, dass es besser war, sich nicht mit überflüssigen Dingen zu belasten, die bei Naturkatastrophen nur Trümmer hinterließen oder vom Wind davongetragen wurden, der die Hochebene mit höllischer Geschwindigkeit heimsuchte. Anschließend begann die Aussaat einheimischer, essbarer Pflanzen, die dank Bewässerung im Sommer wuchsen. Auch das war eine Arbeit, die alle von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang in Anspruch nahm.
Als die Nacht der drei Monde vor der Tür stand, hatte Lara noch immer keine Gelegenheit gehabt, zu erproben, ob die freizügigen Fotos im Buch von Maria Jestak die Realität widerspiegelten oder nicht.
Persephone, der große Mond, war bereits erschienen, begleitet von seiner Dienerin. Lara kämmte ihr noch langes Haar und steckte sich die traditionelle Daïbanblume hinters Ohr. Als Diana, der grüne Mond, am Horizont aufging, rief Dol ihren Pflegesohn Tarr zu sich und wies ihn an, Lara zu einem der Feuer auf den Feldern am Ufer des stillgelegten Flussarms zu begleiten, den die Einwohner Gaias den »See« nannten.
Schroff wies Dol ihn an: »Und dass du mir gut auf die Kleine aufpasst, Asix!«
»Geht klar, Mutter«, antwortete Tarr.
Gemeinsam gingen sie zu den großen Feuern, die schon von Weitem zu sehen waren. Während sie noch durch die Dunkelheit schlenderten, berührte Lara schüchtern Tarrs Hand und fragte: »Wie oft bist du schon dort gewesen? Und wie bilden sich eigentlich die Paare? Stimmt es, dass es mehr Mädchen als Jungen gibt? Und was ist, wenn mich niemand will?«
»Warum stellst du so viele Fragen?«, entgegnete Tarr. »Bist du ängstlich?«
»Nein«, entgegnete sie und hob stolz das Kinn. »Eine Shiro hat keine Angst! Und wenn, zeigt sie es nicht.«
»Es kommt mir aber ganz so vor«, meinte Tarr.
»Vielleicht ein kleines bisschen. Ich hatte noch nie einen Partner«, gestand Lara, denn Tarr gegenüber brauchte sie sich nicht zu verstellen. »Könntest du nicht bei mir bleiben ...?«
Er nahm die Blume, die hinter ihrem Ohr steckte, und ließ sie in den Ausschnitt seiner Tunika gleiten. Dann ging er weiter an ihrer Seite, schweigsam wie immer. Irgendwann setzte er sich – an eine Stelle, wo die Flammen sie beide nur schemenhaft erhellten – und zog sie an sich, zwischen seine kurzen, muskulösen Oberschenkel, wobei er ihren Rücken an seinen Körper drückte.
Das Feuer schlug jetzt hohe Flammen. Doch nach und nach erlosch es, bis nur noch die Glut leuchtete. Jemand spielte Querpfeife, und man hörte
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