Das Gesicht der Anderen
richtig?”
“Ja.”
“Ihre Frau wusste es nicht?”
“Mein Frau hatte Krebs im Endstadium, als unsere Tochter entführt wurde”, sagte G. W. “Ich dachte, es wäre besser für sie, wenn sie nie erfährt, was in Wirklichkeit mit Tessa geschehen ist. Bis zu dem Tag, an dem sie starb, glaubte Anne, Tessa hätte einen schlimmen Autounfall gehabt, und der Vater ihres Kindes wäre Charlie Sentell.”
“Was ist mit Ihrer Schwester? Könnte sie vielleicht …”
“Auf keinen Fall. Sie würde nie etwas tun, das Tessa oder Leslie Anne schadet.”
“Ich meine damit nicht, dass Ihre Schwester Leslie Anne das Päckchen geschickt hat. Sondern: Könnte sie irgendjemandem das Familiengeheimnis verraten haben? Einer Freundin vielleicht? Einem Geliebten?”
“Nein.” Konnte er da wirklich sicher sein? Selbstverständlich. Seine Schwester würde sein Vertrauen nie missbrauchen.
“Damals müssen aber mehr Leute die Wahrheit gekannt haben”, insistierte Moran. “Die Polizei, der Sheriff des Bezirks, in dem Tessa aufgefunden wurde. Das Krankenhauspersonal …”
“Sie mögen etwas vermutet haben, aber sie wussten nichts Genaues. Immerhin war Tessa damals achtzehn und schon sexuell aktiv gewesen, bevor …” G. W. schluckte. “Das Kind hätte von einem ihrer Freunde stammen können.”
“Und genau das haben Sie dann den Leuten erzählt.”
“Tessa war mit niemandem außer Charlie länger als sechs Monate zusammen. Das Kind hätte also durchaus von ihm sein können.” G. W. schloss für einen Moment die Augen, ordnete seine Gedanken und sammelte all seinen Mut. Er hatte so oft gelogen, dass er selbst manchmal kaum noch durchblickte.
“Hätte von Charlie sein können, war aber nicht. Wie konnten Sie da so sicher sein?”
G. W. atmete tief ein. “Als Charlie Tessa im Krankenhaus besuchen kam, erzählte ich ihm dieselbe Geschichte wie allen anderen – die Geschichte von dem Autounfall. Ich sagte ihm auch, dass sie schwanger war. Die Schwangerschaft war erst ein paar Wochen alt. Charlie war aber länger als sechs Wochen weg gewesen, auf dem College … Er erzählte mir, dass er und Tessa schon seit mehreren Monaten nicht mehr … Als ich ihm sagte, ich hätte keine Ahnung, wer der Vater sein könnte, bot er an, er würde das Kind als seines annehmen. Er wollte Tessa heiraten und die Verantwortung für ihr Kind übernehmen.”
“Wenn das der Fall ist, warum …”
“Tessa weigerte sich, ihn zu heiraten. Sie wollte nicht, dass er das Kind annimmt, aber sie war zumindest damit einverstanden, allen zu erzählen, es sei Charlies Kind.” Bis heute konnte G. W. nicht an seine verstorbene Frau Anne denken, ohne dabei tiefen Schmerz zu empfinden. Sie war die Liebe seines Lebens gewesen. Er hätte alles, absolut alles für sie getan. Und das hieß damals auch, sie vor der Wahrheit zu schützen.
“Sie und Tessa haben im Lauf der Zeit sehr viele Lügen erzählt”, sagte Moran. “Es könnte sehr wohl möglich sein, dass irgendjemand mal zwei und zwei zusammengezählt hat. Wenn wir herausfinden sollen, wer Leslie Anne die Zeitungsausschnitte geschickt hat, müssen Sie ehrlich zu mir sein. Ich muss wissen, welche Lügen Sie erzählt haben und was die Wahrheit ist. Beginnen wir also mit Tessas Entführung.”
Du kannst es, sagte sich G. W. Erzähl ihm alles bis auf … “Als Tessa verschwand, dachte ich, man hätte sie entführt, um Lösegeld von uns zu erpressen. Ich erfand die erste Lüge, um meine Frau nicht unnötig aufzuregen. Ich erzählte ihr, Tessa sei mit meiner Schwester Sharon auf Reisen. Wissen Sie, meine Schwester reist die ganze Zeit durch die Weltgeschichte.”
“Das war die erste Lüge?”
“Ja.” Die erste von vielen, so vielen. G. W. wusste nicht einmal, ob er sich an alle erinnerte. Seltsam, wie nach so vielen Jahren des Vertuschens die Lüge wahrer zu sein schien als die Wahrheit selbst.
“Wie lang war Tessa verschwunden?”, fragte Moran.
“Wie lang?”
“Ja, wie lang?”
“Tja … fast zwei Wochen.”
“Tessa erzählte mir, dass man sie an der Interstate 20 in Louisiana gefunden hat. Ist das richtig?”
G. W. nickte.
“Wer hat Sie informiert?”
“Der Sheriff von Richland Parish”, erwiderte G. W. Kein Grund, Moran zu belügen. Es wäre kein Problem für ihn, diese Information zu bestätigen, denn alle Beweise hatte selbst G. W. nicht verschwinden lassen können. Sogar Tessas Krankenakte existierte noch, auch wenn sie streng vertraulich war. “Ein Autofahrer, der mal
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