Das Gesicht der Anderen
Familie es nicht unbedingt schätzen würde, den Sprössling eines halbitalienischen Ganoven in ihrem Kreis zu wissen, erst recht nicht, wenn er Interesse an Tessa bekunden würde. Und ein Interesse an Tessa Westbrook hatte er ganz eindeutig.
Dabei war die Frau alles andere als seine Liga. Er hatte zwar versucht, seine rauen Kanten über die Jahre glatt zu schleifen, aber er war trotzdem immer noch meilenweit davon entfernt, ein standesgemäßer Partner für eine Tessa Westbrook zu sein. Sie verdiente etwas Besseres als ihn.
Welchen Unterschied machte das schon?
Er hatte auch Amy Smith nicht verdient, aber sie war die Seine gewesen – mit Leib und Seele. Amy war eigentlich viel zu gut für ihn gewesen, den rauflustigen Klugscheißer, der er damals war. Aber sie hatte ihn trotzdem geliebt und er sie. Wie sehr hatte er sie geliebt!
Dante blieb weiter in seiner Ecke stehen. Er wollte so wenig in Erscheinung treten wie möglich, immerhin war er nur dazugebeten worden. Seine Aufgabe war es zu beobachten, zuzuhören und die Klappe zu halten. Er musste einfach nur da sein für den Fall, dass er gebraucht wurde. Ansonsten würde er sich zurückhalten und Tessa Westbrook nicht spüren lassen, wie attraktiv er sie fand. Das Letzte, was sie jetzt brauchen konnte, war eine Affäre – ihr Leben war auch so schon kompliziert genug.
Kaum betrat G. W. den Salon, erfüllte seine mächtige Aura den ganzen Raum. Daher dauerte es eine volle Minute, bis Dante den Mann bemerkte, der mit dem Hausherrn den Salon betreten hatte. Es handelte sich vermutlich um Dr. Arthur Barrett. Der Mann war von mittlerer Größe und Statur, hatte dichte graue Haare und einen gepflegten Schnurrbart. Er trug eine kakifarbene Anzughose und ein blaues Hemd. Wie ein Psychologe auf Hausbesuch sah er nicht aus, vielmehr wie ein netter Onkel, der mal wieder vorbeischaute.
“Leslie Anne, das ist Dr. Barrett”, stellte G.W ihn vor. “Der langjährige Therapeut deiner Mutter.”
Leslie blitzte den Arzt böse an.
“Arthur ist hier, um uns zu helfen.” G. W. sah hinüber zu Tessa.
“Vor vielen Jahren hat Dr. Barrett mir geholfen, mit dem fertig zu werden, was mir widerfahren ist.” Tessa streckte die Hand nach ihrer Tochter aus, aber Leslie Anne wich aus und rutschte ans andere Ende des Sofas. “Er kann auch dir helfen, wenn du ihn lässt.”
“Kann er vielleicht meine DNA verändern?”, fragte Leslie Anne. “Kann er mit dem Zauberstab wedeln, und schon sind alle Gene von Eddie Jay Nealy aus meinem Körper verschwunden?”
Tessa seufzte.
“Es tut mir leid, so einen Zauberstab besitze ich nicht”, sagte Dr. Barrett mit freundlicher Stimme. “Ich kann keine Wunder bewirken, aber helfen kann ich dir trotzdem.”
“Na klar, Doc. Dann helfen Sie mal kräftig.” Leslie Anne wandte sich wieder an Tessa. “Aber zuerst will ich von dir die Wahrheit hören. Und lass ja nichts aus. Ich habe das Recht, alles zu erfahren. Fang am besten bei deiner Entführung an.”
“Es tut mir leid, aber ich werde dir nicht alles sagen können”, sagte Tessa. “Ich kann dir nur das sagen, woran ich mich erinnere.”
“Was soll das heißen?” Leslie Anne starrte ihre Mutter finster an.
“Deine Mutter erinnert sich nicht an ihre Entführung … und auch nicht an die Vergewaltigung”, sagte G. W. “Gott sei Dank.”
“Das verstehe ich nicht.” Leslie Anne blickte zu Dante hinüber. “Glauben Sie, sie kann sich wirklich nicht erinnern, oder belügt sie mich schon wieder?”
Dante hatte sich wirklich nicht einmischen wollen, zumindest nicht so schnell. Er wollte lieber im Hintergrund bleiben und Leslie Anne sozusagen durch seine Anwesenheit moralisch unterstützen. “Ich glaube ihr. Oft können sich die Opfer eines traumatischen Erlebnisses nicht mehr an das Erlebte erinnern. Das ist ein Schutzmechanismus des Gehirns und wird als retrograde Amnesie bezeichnet.” Er sah den Psychologen an. “Stimmt das so, Dr. Barrett?”
“Ja”, antwortete der Arzt. “Obwohl Tessas Amnesie sich nicht nur auf …”
“Jeder Mensch würde ein so schreckliches Erlebnis gern ausblenden”, fuhr G. W. dazwischen. “Du solltest froh sein, dass deine Mutter sich nicht mehr erinnern kann! Und du solltest sie vor allem nicht beschuldigen, dich anzulügen. Du hast sie nach der Wahrheit gefragt, und sie wird sie dir sagen.”
Dante fragte sich, warum G. W. Dr. Barrett mitten im Satz unterbrochen hatte. Hatte der alte Mann etwa Angst, der Arzt könnte eine Information
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