Das Gesicht der Anderen
preisgeben, die G. W. lieber unter Verschluss halten wollte? Und wenn ja, welche? Und warum musste sie geheim bleiben?
“Alles klar. Dann will ich dir mal glauben, dass du dich weder an deine Entführung noch an die Vergewaltigung erinnern kannst. Und an was erinnerst du dich?” Leslie Anne beobachtete ihre Mutter mit dem Blick eines Falken, als könnte sie allein durch den Anblick ihrer Mutter herausfinden, ob sie die Wahrheit sagte.
“Ich erinnere mich daran, dass ich im Krankenhaus aufgewacht bin, in Louisiana.” Tessa holte tief Luft. “Zumindest haben mir die Schwestern gesagt, ich wäre in Louisiana. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war und was passiert war. Und bis heute ist meine Erinnerung an diese ersten Tage sehr verschwommen. Es war entweder ein Polizist oder ein Arzt, der mir erzählte, was geschehen war. Er sagte, mein Vater sei da.”
“Das war der Sheriff”, erklärte G. W. “Sheriff Wadkins.”
“Dann kam Daddy rein, aber ich erkannte ihn nicht. Er musste mir sagen, wer er war, und er versprach mir, dass er sich um mich kümmern und alles wieder gut werden würde.”
Dante konnte den Schmerz förmlich spüren, den Tessa durchmachte. Es war sicher schwer für sie, all das, was sie in den Tiefen ihrer Erinnerung belassen wollte, nun auszusprechen. Wie konnte es bloß sein, dass er Tessas Emotionen nachempfand, ihren Schmerz praktisch spürte?
Weil du nicht unterscheiden kannst zwischen Tessa und Amy
, sagte er zu sich selbst.
In deinem Kopf sind die beiden Frauen zu einer geworden.
“Und Großvater wusste nicht, dass du schwanger warst. Oder?”
Tessa schüttelte den Kopf. “Keiner wusste es. Damals noch nicht. Wir erfuhren es erst ein paar Wochen später, als Daddy mich schon nach Mississippi gebracht hatte.”
“Hasst du mich gehasst, als du es herausgefunden hast? Wolltest du mich abtreiben?” Aus Leslie Annes Augen sprach die reine Verzweiflung.
Um Himmels willen! Lüg sie an, wenn es sein muss
, dachte Dante.
Egal was du machst, aber sag diesem Kind nicht, dass du es nicht haben wolltest oder es gehasst hast!
“Ich … ich habe dich nie gehasst”, sagte Tessa sehr leise, fast flüsternd. “Ich habe zwar über eine Abtreibung nachgedacht, aber ich ließ keine vornehmen. Das konnte ich nicht. Ich … ich wollte dich haben.”
Dante wusste, dass Tessa log. Hätte Anne Westbrook ihre Tochter nicht angefleht, das Kind auszutragen, hätte sie das Baby ihres Vergewaltigers abgetrieben. Aber das musste Leslie Anne nun wirklich nicht wissen.
“Du lügst!” Leslie Anne sprang auf und baute sich vor Tessa auf. Tränen strömten über ihre Wangen. “Du kannst mich nicht gewollt haben!”
“Geh nicht so mit deiner Mutter um!”, donnerte G. W. mit bebender Stimme. Das war keine Wut. Das waren Angst und Schmerz.
“Nein, Daddy, schon gut”, beschwichtigte Tessa. “Sie hat ja recht.” Tessa stand auf und sah ihre Tochter an. “Ich wollte nicht schwanger von meinem Vergewaltiger sein. Dein Großvater und ich beschlossen, dass ich eine Abtreibung vornehmen lassen würde. Doch dann fand deine Großmutter heraus, dass ich schwanger war, und weil sie nichts von der Vergewaltigung wusste, freute sie sich, und damit war die Abtreibung vom Tisch.”
Leslie Anne schlang die Arme um sich, um nicht zu zittern. “Also hast du mich gehasst. Du hasst mich gehasst und wolltest mich nicht!”
Als Tessa sie in den Arm nehmen wollte, wich Leslie Anne ihr aus und starrte sie böse an.
Tessa ließ die Hände ausgestreckt, in einer bittenden Geste. “Kaum lagst du nach deiner Geburt in meinem Arm, überwältigte mich die Liebe zu dir. Und mir wurde bewusst, ich hatte dich schon die ganze Zeit geliebt – die ganzen neun Monate, die ich dich in mir trug. Weil du
mein
Baby warst. Meins. Nur meins.”
Leslie Anne unterdrückte ein Schluchzen und wischte sich mit den Fingerspitzen übers Gesicht. “Hast du mich auch später noch geliebt, als du mich aus dem Krankenhaus mit nach Hause genommen hast?” Sie sah G. W. an. “Und du, Großvater? Hattest du mich auch von Anfang an lieb, oder hast du mich gehasst, als ich dann auf die Welt kam?”
“Was für eine dumme Frage!” G. W. schaffte es nicht, seine Enkelin anzusehen.
Dante beobachtete Tessa und fragte sich, wie lange sie noch durchhalten würde, ohne zusammenzubrechen. Sie sah aus, als würde sie jeden Moment umkippen. Er wollte zu ihr gehen, sie in den Arm nehmen und ihr versprechen, dass er auf sie aufpassen würde und dass alles
Weitere Kostenlose Bücher