Das Gesicht des Drachen
konzentrierte.
VIERTER TEIL
WIE MAN EINEM DÄMON
DEN SCHWANZ ABSCHNEIDET
Mittwoch, von der Stunde des Drachen, 7.00 Uhr, bis zur Stunde des Hahns, 18.30 Uhr.
Eine Partie wird besonders interessant, wenn beide Spieler gleichrangig sind.
The Game of Wei-Chi
...Dreißig
Als Sam Chang am Morgen seines voraussichtlichen Todestages erwachte, fand er seinen Vater im Hinterhof ihrer Wohnung, wo dieser die langsamen Übungen des Tai-Chi vollführte.
Während er dem alten Mann zusah, fiel ihm plötzlich etwas ein: Chang Jiechi würde in drei Wochen siebzig werden. Da die Familie in China bettelarm und ständigen Schikanen ausgesetzt gewesen war, hatte sie seinen sechzigsten Geburtstag nicht angemessen feiern können, obwohl aus diesem Anlass traditionell ein großes Fest stattfinden sollte, um den Übertritt ins hohe Alter und somit die Zeit der Verehrung einzuleiten. Aber zu seinem nächsten Ehrentag würden sie alles nachholen.
Auch wenn Sam Chang nicht leibhaftig an der Feier teilnehmen konnte, würde dies vielleicht wenigstens seiner Seele gelingen.
Er betrachtete seinen Vater, der sich wie ein gemächlicher Tänzer durch den kleinen Hof bewegte.
Tai-Chi war wohltuend für Körper und Geist, doch der Anblick erfüllte Chang jedes Mal mit großer Traurigkeit, weil er dadurch an eine schwüle Juninacht vor vielen Jahren erinnert wurde. Chang, eine Gruppe Studenten und einige befreundete Dozenten hatten in Peking zusammengesessen und ein paar Leute beobachtet, die ganz in der Nähe in diese ballettartigen Übungen versunken waren. Es war nach Mitternacht, und sie alle genossen das schöne Wetter und die heitere Stimmung, sich im Kreis von Gleichgesinnten zu befinden und den Beginn dessen zu erleben, was die großartigste Nation der Welt werden sollte: das neue China, das aufgeklärte China.
Chang wollte den Studenten an seiner Seite auf eine agile ältere Frau hinweisen, die völlig im Tai-Chi aufging, als die Brust des Jungen mit einem Mal explodierte und er zu Boden fiel. Die Soldaten der Volksbefreiungsarmee hatten begonnen, in die Menge auf dem Platz des Himmlischen Friedens zu schießen. Kurz darauf kamen die Panzer und trieben die Menschen vor sich her, so dass viele unter den Ketten zerquetscht wurden. Das berühmte Fernsehbild des einzelnen Studenten, der einen der Panzer mit einer Blume aufhielt, blieb in dieser furchtbaren Nacht leider eine seltene Ausnahme.
Danach konnte Chang nie wieder beim Tai-Chi zusehen, ohne an diesen Moment denken zu müssen, der ihn in seiner Haltung als bekennender Dissident endgültig bestärkt und sein Leben - und das seines Vaters und seiner Familie - für immer verändert hatte.
Er blickte auf seine Frau und das kleine Mädchen, das neben ihr schlief und die weiße Stoffkatze im Arm hielt, die Mei-Mei ihr genäht hatte. Schweigend betrachtete er die beiden einen Moment lang. Dann ging er ins Badezimmer, drehte das Wasser auf, zog sich aus und trat unter die Dusche. Irgendwie hatte Mei- Mei am Vorabend noch die Zeit gefunden, alles hier zu scheuern.
Er duschte, drehte den Hahn wieder zu, trocknete sich ab und neigte lauschend den Kopf. Aus der Küche drang ein metallenes Klappern an seine Ohren.
Mei-Mei schlief noch, und die Jungen konnten nicht kochen. Erschrocken huschte er zum Bett, zog die Pistole unter der Matratze hervor und schlich vorsichtig ins vordere Zimmer. Dann lachte er. Sein Vater bereitete Tee zu.
»Baba«, sagte er. »Ich wecke Mei-Mei. Sie kann das erledigen.«
»Nein, nein, lass sie schlafen«, sagte der alte Mann. »Nach dem Tod deiner Mutter habe ich gelernt, wie man Tee kocht. Reis kann ich auch. Und Gemüse. Allerdings nicht sehr gut. Lass uns zusammen Tee trinken.« Er wickelte einen Lappen um den Griff des eisernen Kessels und trug ihn mit zwei Tassen ins Wohnzimmer. Sie setzten sich, und er schenkte ihnen Tee ein.
Nach Changs Rückkehr letzte Nacht hatten er und sein Vater sich den Stadtplan genommen und die Adresse des Geists gesucht. Zu ihrer Überraschung stand das Haus nicht in Chinatown, sondern weiter im Westen, in der Nähe des Hudson River.
»Wie willst du in die Wohnung des Geists kommen?«, fragte sein Vater jetzt. »Wird er dich nicht erkennen?«
Chang trank einen Schluck Tee. »Nein, das glaube ich nicht. Er ist nur einmal im Laderaum des Schiffs gewesen, und da war es außerdem ziemlich dunkel.«
»Wie willst du es anstellen?«
»Falls es einen Pförtner gibt, werde ich mich als Tan vorstellen und
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