Das Gesicht des Drachen
Kammer zu befördern,
und hielt die Mündung dicht vor die hölzerne Wand, sodass Sen nicht gefährdet war. Sie drückte den Abzug. Ein Blitz und eine laute Explosion. Der Rückstoß brach ihr beinahe das Handgelenk, und sie ließ die Waffe los, die in der Wolke aus Splittern und Pulverrückständen nach unten sank.
Bitte, dachte Amelia. Bitte.
Keine Luft.
Keine .
Dann blitzten jäh zwei Lichter auf, weil sich die beiden Beamten mit schnellen Flossenschlägen durch den Korridor näherten. Jemand schob Sachs ein Mundstück zwischen die Lippen, und sie konnte wieder atmen. Der Tauchleiter steckte seinen zweiten Lungenautomaten dem Kapitän in den Mund. Es stieg bloß ein schwacher Strom aus Luftblasen auf, aber immerhin war Sen noch am Leben.
Okay-Zeichen wurden ausgetauscht.
Zu viert schwammen sie zur Brücke und hinaus zu dem orangefarbenen Seil. Daumen hoch. Im freien Gewässer wurde Sachs merklich ruhiger. Sie konzentrierte sich darauf, langsam aufzusteigen, nicht schneller als die eigenen Luftblasen, und atmete tief ein und aus, während das Schiff voller Leichen hinter ihnen zurückblieb.
Sachs lag im Krankenzimmer des Küstenwachboots und atmete gleichmäßig durch; sie hatte sich für normale Luft entschieden und die grüne Sauerstoffmaske des Sanitäters dankend abgelehnt sie fürchtete, ihre Beklemmung in diesem kleinen Raum noch zu verstärken, wenn sie sich irgendeinen Gegenstand aufs Gesicht drückt.
Gleich nach der Ankunft auf dem schwankenden Deck hatte sie den Neoprenanzug abgestreift - die enge Kautschukhülle war selbst schon zu einem Auslöser klaustrophobischer Gefühle geworden und sich in eine warme Decke gewickelt. Zwei Matrosen hatten sie ins Krankenzimmer gebracht, wo ihr Handgelenk untersucht worden war. Wie sich herausstellte, hatte Amelia keine ernstliche Verletzung davongetragen.
Schließlich fühlte sie sich wieder kräftig genug, um sich nach oben zu wagen. Sie schluckte zwei Tabletten gegen Reisekrankheit und stieg die Stufen zur Brücke empor. Der Helikopter war zurück und schwebte über dem Boot, allerdings nicht ihretwegen, sondern um den bewusstlosen Kapitän Sen in ein Krankenhaus auf Long Island zu fliegen.
Ransom erklärte ihr, weshalb der Mann ihnen bei der Suche nach etwaigen Überlebenden entgangen war. »Unsere Taucher haben sich wirklich Zeit gelassen und den gesamten Rumpf abgeklopft, aber keine einzige Antwort erhalten. Sen muss in der Luftblase ohnmächtig geworden sein und erst später das Bewusstsein wiedererlangt haben.«
»Wohin wird er gebracht?«, fragte Amelia.
»Ins Marinehospital nach Huntington, dort haben sie eine Druckkammer.«
»Wird er es schaffen?«
»Es sieht nicht gut aus«, sagte Ransom. »Aber da er vierundzwanzig Stunden unter solchen Bedingungen überlebt hat, ist wohl alles möglich, schätze ich.«
Das Kältegefühl ließ immer mehr nach. Amelia ging wieder unter Deck, zog ihre Jeans, das T-Shirt und das Sweatshirt über und eilte zurück auf die Brücke, um Rhyme zu verständigen. Sie verzichtete auf eine ausführliche Schilderung ihrer Unterwasserabenteuer und teilte ihm lediglich mit, sie habe einige Beweise gefunden. »Und womöglich einen Zeugen.«
»Einen Zeugen!«
»Der Kapitän war noch am Leben. Anscheinend ist es ihm nach dem Untergang gelungen, einige der Leute aus dem Frachtraum in die Kombüse zu bringen. Außer ihm hat es leider niemand geschafft. Mit etwas Glück wird er in der Lage sein, uns über die New Yorker Unternehmungen des Geists Auskunft zu geben.«
»Hat er schon was gesagt?«
»Er ist ohne Bewusstsein. Man weiß nicht mal mit Sicherheit, ob er durchkommt - er ist unterkühlt und leidet unter der Dekompression. Das Krankenhaus wird uns verständigen, sobald Näheres feststeht. Lass Lon lieber ein paar Babysitter für ihn abstellen. Falls der Geist davon erfährt, wird er den Mann mundtot machen wollen.«
»Komm schnell zurück, Sachs. Wir vermissen dich.«
Sie wusste, dass Lincoln Rhyme den Pluralis Majestatis benutzte und eigentlich nur sich selbst meinte.
Amelia packte die im Schiff gesicherten Spuren zusammen und trocknete das Dokument aus dem Jackett des Geists vorsichtig mit einigen Papierhandtüchern. Dadurch wurde das Beweisstück zwar ziemlich verunreinigt, aber sie befürchtete, dass die vom Salzwasser aufgeweichte Schrift ansonsten völlig unleserlich werden würde. Man musste bei der Tatortarbeit stets Kompromisse eingehen, hatte Rhyme oft genug zu ihr gesagt.
Captain Ransom betrat die
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