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Das Gesicht des Drachen

Das Gesicht des Drachen

Titel: Das Gesicht des Drachen
Autoren: Jeffery Deaver
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er den Männern zurufen. Vergebt mir.
    Er warf einen Blick über die Schulter und sah einen orangefarbenen Fleck im Dunst: das Boot des Geists, das sie verfolgte. Verzweiflung stieg in ihm auf. Als Dissident in China hatte Sam Chang schon häufig Angst gehabt, aber in der Volksrepublik bedeutete Angst ein heimtückisches Unbehagen, mit dem man zu leben lernte. Es war nicht mit der jetzigen Situation zu vergleichen, in der ein wahnsinniger Killer beschlossen hatte, die eigene geliebte Familie und deren Schicksalsgefährten zur Strecke zu bringen.
    »Unten bleiben! Bleibt alle liegen.« Er konzentrierte sich darauf, das Boot aufrecht zu halten und so schnell wie möglich voranzukommen.
    Wieder ein Schuss. Die Kugel schlug neben ihnen im Wasser ein. Falls der Geist das Schlauchboot traf, würde es innerhalb kürzester Zeit untergehen.
    Ein gewaltiges, schauriges Ächzen erfüllte die Luft. Die Fuzhou Dragon legte sich vollständig auf die Seite und versank endgültig im Meer. Dabei entstand eine mächtige Woge, die sich ringförmig wie die Schockwelle einer Bombenexplosion ausbreitete. Das Boot der Flüchtlinge war zu weit entfernt, um noch davon betroffen zu werden, doch der Geist befand sich wesentlich näher an dem sinkenden Schiff. Er wandte den Kopf, sah die hohe Welle auf sich zukommen, drehte ab und verschwand sogleich außer Sicht.
    Sam Chang war Professor, Künstler und politischer Aktivist, aber er war auch Chinese und neigte viel eher dazu, an übersinnliche Einflüsse und die Bedeutung von Vorzeichen zu glauben, als dies bei einem westlichen Intellektuellen vermutlich der Fall gewesen wäre. Einen Moment lang fragte er sich, ob womöglich Guan Yin, die Göttin der Barmherzigkeit, zu ihren Gunsten interveniert und den Geist in ein nasses Grab geschickt hatte.
    Doch wenige Sekunden später machte John Sung, der nach hinten Ausschau hielt, Changs Hoffnung zunichte. »Er ist immer noch da«, rief er. »Er kommt. Der Geist verfolgt uns weiterhin.«
    Demnach hat Guan Yin heute wohl anderweitig zu tun, dachte Sam Chang deprimiert. Falls wir überleben wollen, müssen wir uns selbst darum kümmern. Er korrigierte den Kurs und hielt unbeirrt auf die Küste zu. Hinter ihnen blieben die Leichen und diverse Überreste der Fuzhou Dragon zurück, die wie schwimmende Grabsteine die letzte Ruhestätte von Kapitän Sen und seiner Mannschaft markierten, im Tode vereint mit den vielen Menschen, die während der letzten Wochen zu Changs Freunden geworden waren.
    »Er hat das Schiff versenkt.«
    Lon Sellittos Stimme war kaum lauter als ein Flüstern. »O Gott.« Er ließ den Telefonhörer sinken.
    »Was?«, fragte Harold Peabody schockiert. Er hob die fleischige Hand und nahm seine klobige Brille ab. »Er hat es versenkt?«
    Nickend bestätigte der Detective die grausige Nachricht.
    »Herrje«, sagte Dellray.
    Lincoln Rhymes Kopf, einer der wenigen Körperteile, die noch uneingeschränkt funktionierten, wandte sich dem stämmigen Polizisten zu. Auch Rhyme war erschrocken und spürte, wie sein gesamter Leib von einer Hitzewelle überflutet wurde, was vom Hals an abwärts natürlich nur auf Einbildung beruhen konnte.
    Dellray blieb stehen, und Peabody und Coe starrten sich an. Sellitto senkte den Blick auf den gelben Parkettfußboden und lauschte ein weiteres Mal der Stimme aus dem Hörer. Dann hob er den Kopf. »Mein Gott, Linc, das Schiff ist weg. Mit allen Passagieren.«
    O nein...
    »Die Küstenwache weiß nicht genau, was passiert ist, aber sie haben eine Unterwasserexplosion verzeichnet, und zehn Minuten später ist die Dragon vom Radar verschwunden.«
    »Wie viele Tote?«, fragte Dellray.
    »Keine Ahnung. Die Evan Brigant befindet sich noch ein ganzes Stück entfernt. Außerdem kennen sie die genaue Stelle nicht - niemand an Bord des Schiffs hat irgendeines der Notrufsysteme ausgelöst, die ansonsten die exakten Koordinaten gesendet hätten.«
    Rhyme betrachtete die Karte von Long Island und fixierte die rote Markierung, mit der sie die ungefähre Position der Dragon festgehalten hatten. »Wie weit vor der Küste?«
    »Rund anderthalb Kilometer.«
    Rhyme hatte überlegt, was beim Eintreffen der Küstenwache an Bord der Fuzhou Dragon geschehen würde, und in Gedanken ein halbes Dutzend logischer Szenarien durchgespielt, einige optimistisch, andere unter Einbeziehung von Verwundeten und Todesopfern. Derartige Berechnungen basierten bis zu einem gewissen Grad auf Spekulationen; man konnte die Risiken zwar minimieren, aber
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