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Das Gesicht des Drachen

Das Gesicht des Drachen

Titel: Das Gesicht des Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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würde.
    Halt ihn auf!
    Er nahm das Lederhalsband, an dem das steinerne Affenamulett hing, und zog mit aller Kraft. Der Riemen schnitt in die Kehle des Mannes. Der Geist schlug vergeblich um sich, und aus seinem Mund ertönte ein Gurgeln. Er begann zu zittern. Seine Absätze hoben beinahe vom Boden ab.
    Lass los, ermahnte Sonny Li sich. Verhafte ihn. Bring ihn nicht um.
    Aber er ließ nicht los. Er zog fester und fester.
    Bis das Leder riss.
    Die Affenfigur fiel herab und zerbrach. Li stolperte, stürzte und schlug mit dem Kopf hart auf dem Pflaster auf. Er verlor fast das Bewusstsein.
    Bei den Richtern der Hölle.
    Er konnte verschwommen erkennen, dass der Geist auf die Knie gesunken war, sich keuchend und hustend den Hals hielt und mit der anderen Hand nach einer Waffe tastete.
    Li hatte plötzlich ein Bild vor Augen: Sein strenger Vater, der ihn wegen einer dummen Bemerkung tadelte.
    Dann die Opfer des Geists in Lis Heimatstadt, die blutend vor dem Restaurant auf dem Gehweg lagen.
    Und er sah etwas vor sich, das noch nicht geschehen war: Die ermordete Hongse, irgendwo im Dunkeln. Auch Loaban, dessen Gesicht im Tode so reglos wirkte, wie sein Körper es schon zu Lebzeiten gewesen war.
    Sonny Li kam auf die Knie und kroch auf seinen Gegner zu.
    Der Kombi der Spurensicherung hinterließ eine sieben Meter lange Bremsspur, weil die Straße in Chinatown von einem glitschigen Film überzogen war, dem Schmelzwasser einiger Eistonnen vor einem Fischgeschäft.
    Amelia Sachs stieg mit grimmiger Miene aus, gefolgt von INS-Agent Alan Coe und Eddie Deng. Sie liefen durch die stinkende Gasse auf den Pulk aus uniformierten Beamten des Fünften Reviers zu. Die Männer und Frauen wirkten gleichgültig und nüchtern, so wie die meisten Polizisten an einem Tatort.
    Sogar am Tatort eines Mordes.
    Sachs verlangsamte ihren Schritt und starrte auf die Leiche.
    Sonny Li lag bäuchlings auf den dreckigen Pflastersteinen. Seine Augen waren halb geöffnet, und die auf Schulterhöhe flach ausgestreckten Finger erweckten den Eindruck, er wolle im nächsten Moment mit einer Reihe von Liegestützen beginnen.
    Sachs blieb stehen und musste gegen das Verlangen ankämpfen, sich hinzuknien und die Hand des Mannes zu nehmen. Im Laufe der Jahre, die sie nun schon mit Rhyme zusammenarbeitete, hatte sie viele Tatorte untersucht, aber hier ging es zum ersten Mal um einen Kollegen - und um einen Freund, wie sie inzwischen wusste.
    Auch um einen Freund von Rhyme.
    Dennoch gelang es ihr, die Gefühlsregung zu unterdrücken. Letzten Endes war es ein Tatort wie jeder andere, und Lincoln Rhyme hatte schon oft betont, dass kaum etwas so häufig zur Verunreinigung von Spuren führte wie ein unachtsamer Cop.
    Sieh darüber hinweg, achte nicht darauf, wer das Opfer ist. Halt dich an Rhymes Ratschlag: Denk nicht an die Toten.
    Tja, das dürfte verflucht schwierig werden. Für sie beide. Aber vor allem für Lincoln Rhyme. Sachs hatte bemerkt, dass zwischen ihm und Li während der letzten zwei Tage eine außergewöhnliche Verbindung entstanden war, die erste richtige Freundschaft, seit sie Rhyme kannte.
    Dann jedoch dachte sie an etwas anderes: An Po-Yee, die bald das nächste Opfer dieses Verbrechers sein würde, falls sie ihn nicht vorher erwischten. Und so schob Sachs den Schmerz beiseite, als würde sie den Koffer zuklappen und abschließen, in dem sie ihre Wettkampfpistole, einen 45er Colt, aufbewahrte.
    »Wir haben uns an Ihre Anweisung gehalten«, sagte einer der Beamten, ein Detective in grauem Anzug. »Niemand hat sich dem Opfer genähert. Nur der Rettungssanitäter.« Er nickte in Richtung der Leiche. »Er ist TATF.«
    Polizisten neigen dazu, alles in kalte Abkürzungen zu fassen, auch den Grad der Leblosigkeit. TATF stand für »Tod am Tatort festgestellt«.
    Agent Coe kam langsam näher. »Es tut mir Leid«, sagte er und fuhr sich mit der Hand durch das rote Haar. Es klang allerdings nicht besonders aufrichtig.
    »Ja.«
    »Er war ein guter Mann.«
    »Ja, das war er.« Sie sagte dies bitter und dachte: Er war ein tausendmal besserer Cop als du. Wenn du gestern nicht alles versaut hättest, säße der Geist in Haft, Sonny wäre noch am Leben, und Po-Yee und die Changs hätten nichts mehr zu befürchten.
    Sie wandte sich an die Cops. »Ich muss den Schauplatz untersuchen. Bitte gehen Sie alle ein Stück zurück.«
    O Mann, dachte sie und fürchtete sich vor dem nächsten Schritt nicht vor der schwierigen und traurigen Tatortarbeit, sondern vor etwas weitaus

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