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Das Gesicht des Drachen

Das Gesicht des Drachen

Titel: Das Gesicht des Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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Wer ist >ich    Aber sie antwortete ihm aus der Perspektive von Amelia Sachs. »Er bereitet mir Schwierigkeiten, Rhyme. Der Geist hat irgendetwas an sich. Er ist weit jenseits der Normalität.« Sie hielt kurz inne. »Seine Welt fühlt sich nicht gut an.«
    Es war eine Welt, in der Familien starben und Kinder im Frachtraum sinkender Schiffe gefangen waren, in der Männern und Frauen der herzlose kalte Ozean als einzige Zuflucht blieb und sie trotzdem hinterrücks erschossen wurden. Eine Welt, in der man sie aus einem banalen Grund umbrachte: weil sie Ärgernisse und Stolpersteine waren.
    Sachs starrte in die auf ewig geöffneten Augen Jerry Tangs.
    »Geh dorthin, Sachs«, murmelte Rhyme. »Geh schon. Ich hole dich zurück. Hab keine Angst.«
    Sie wünschte, sie hätte ihm glauben können.
    »Du hast den Verräter gefunden«, fuhr Rhyme fort. »Du bist wütend auf ihn. Was machst du?«
    »Meine drei Begleiter fesseln Tang an einen Stuhl, und dann machen wir uns mit Messern oder Rasierklingen über ihn her. Er hat schreckliche Angst und brüllt. Wir lassen uns Zeit. Überall um mich herum liegen kleine Fleischfetzen. Ein Stück von einem Ohr, ein paar Hautstreifen. Wir schneiden ihm die Augenlider ab.« Sie verstummte für einen Moment. »Aber ich sehe keine Anhaltspunkte, Rhyme. Nichts, das uns weiterhelfen könnte.«
    »Aber es gibt dort Anhaltspunkte, Sachs. Du weißt, dass es sie gibt. Denk an Locard.«
    Edmond Locard war ein früherer französischer Kriminalist, dessen Grundregel lautete, dass bei jedem Verbrechen ein Spurenaustausch zwischen Opfer und Täter und zwischen Schauplatz und Täter stattfand. Es mochte schwierig sein, die genaue Art dieses Austauschs zu erkennen, und noch viel schwieriger, die Spur zu ihrem Ursprung zurückzuverfolgen, aber ein guter Ermittler durfte sich von einer scheinbaren Unmöglichkeit keinesfalls abschrecken lassen, wie Rhyme nicht müde wurde zu betonen.
    »Mach weiter - los, mach weiter. Du bist der Geist. Du hast ein Messer oder eine Rasierklinge in der Hand.«
    Die Phantom-Wut, die sie fühlte, wich unversehens einer schaurigen Heiterkeit. Das Gefühl war schockierend und seltsam faszinierend. Keuchend und schwitzend starrte sie Jerry Tang an und wurde vollends von dem widerlichen Charakter des Kwan Ang, genannt Gui, der Geist, ergriffen. Sie empfand tatsächlich, was er empfunden hatte eine tiefe Zufriedenheit beim Anblick der Qualen und des langsamen Todeskampfes dieses Verräters.
    Erschrocken wurde ihr klar, dass sie Lust auf mehr verspürte. Sie wollte Tangs Schreie hören, wollte sehen, wie ihm das Blut über die zuckenden Gliedmaßen lief.
    Das führte zum nächsten Gedanken: »Ich...«
    »Ja, Sachs?«
    »Ich bin nicht derjenige, der Tang foltert.«
    »Du bist es nicht?«
    »Nein. Ich will, dass die anderen es tun. Damit ich zuschauen kann. Es ist wie in einem Pornofilm. Ich will alles sehen und hören. Ich will kein einziges Detail verpassen. Zuerst lasse ich ihm die Augenlider abtrennen, damit Tang mich sieht, sehen muss, wie ich ihn beobachte.« Sie flüsterte jetzt. »Ich will, dass es möglichst lange dauert.«
    »Ah, gut, Sachs«, sagte Rhyme leise. »Demnach muss es dort einen Platz geben, von dem aus du zusiehst.«
    »Ja. Hier steht ein Stuhl, der in Tangs Richtung gedreht ist, etwa drei Meter von der Leiche entfernt.« Es verschlug ihr fast die Sprache. »Ich sehe zu«, flüsterte sie. »Ich genieße es.« Sie schluckte und spürte, dass Schweiß über ihre Kopfhaut lief. »Die Schreie dauern fünf, dann zehn Minuten. Ich sitze die ganze Zeit vor ihm und genieße jeden Schrei, jeden Tropfen Blut, jeden Schnitt.« Sie atmete inzwischen ziemlich schnell.
    »Wie geht's dir, Sachs?«
    »Alles in Ordnung«, sagte sie.
    Doch es war überhaupt nichts in Ordnung. Sie steckte in einer Falle - war genau dort, wo sie nicht sein wollte. Alles, was gut war in ihrem Leben, spielte mit einem Mal keine Rolle mehr, und sie glitt nur noch tiefer in die Welt des Geists.
    Das klingt nach schlechten Neuigkeiten...
    Ihre Hände zitterten. Sie war verzweifelt und allein.
    Das klingt nach schlechten...
    Genug jetzt!, ermahnte sie sich.
    »Sachs?«, fragte Rhyme.
    »Es geht mir gut.«
    Denk nicht mehr daran, denk nicht an die kleinen geringelten Fleischfetzen, die Blutflecke. Denk nicht darüber nach, wie sehr du seinen Schmerz genießt.
    Dann bemerkte sie, dass Rhyme nichts mehr sagte.
    »Rhyme?«
    Keine Antwort.
    »Bist du okay?«, fragte

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