Das Gesicht des Fremden
was? Ich war immer ’n prima Fummler, ja, das war ich – in jungen Jahren.« Er lachte und ließ das Geldstück in seiner Tasche verschwinden. »War beim besten Meister von ’ner ganzen Branche. Wir sehen uns, Mr. Monk. Wenn Se die Diebe kriegen, schulden Se mir noch eine!«
Monk mußte gegen seinen Willen schmunzeln. Der Mann war zwar ein Taschendieb, aber er hatte es bei einem der Halsabschneider gelernt, die Kinder für sich stehlen ließen, um sie als Gegenleistung für die Beute durchzubringen. Eine Lehre in Überlebenskunst! Jakes Alternative wäre der gleiche Hungertod gewesen, an dem das Kind im Rinnstein zugrunde gegangen war. Nur die mit den flinken Fingern, die Kräftigen und die, die Glück hatten, erreichten das Erwachsenenalter. Es stand ihm nicht zu, den Richter zu spielen.
»Wenn ich sie kriege, Jake, gehört sie Ihnen«, versprach er und stapfte vorsichtig und dicht gefolgt von Evan die letzten Stiegen hinauf. Oben angekommen, öffnete er die Tür, ohne anzuklopfen.
Tommy der Blinde hatte sie offensichtlich erwartet. Er war ein flinker kleiner Kerl, etwa einsfünfzig groß, mit spitzem, unbeschreiblich häßlichem Gesicht; er war auf eine Art gekleidet, die er selbst vermutlich »abgefahren« genannt hätte. Allem Anschein nach handelte es sich bei seiner Blindheit um nicht mehr als Kurzsichtigkeit, denn er erkannte Monk auf Anhieb.
»’n Abend, Mr. Monk. Sie interessieren sich für ’n Fälscher?
’n ganz besonderen, hab ich gehört?«
»Stimmt genau, Tommy. Und zwar einen, der zwei Ganoven mit falschen Papieren versorgt hat, damit sie eine Wohnung am Mecklenburg Square ausräumen konnten. Machten dem Portier weis, sie wären Peeler.«
Tommys Gesicht leuchtete amüsiert auf.
»Nich übel. Ganz schön clever, echt.«
»Vorausgesetzt, sie werden nicht geschnappt.«
»Was ’n drin bei der Sache?« Seine Augen wurden schmal.
»Es geht um Mord, Tommy. Der Mörder wird baumeln müssen, und seine Helfershelfer haben gute Chancen, das nächste Boot zu erwischen.«
»Großer Gott!« Tommy wurde sichtlich blaß. »Nach Australien zieht’s mich nu überhaupt nich – und Bootfahren hab ich noch nie vertragen, echt! Der Mensch is nich dazu gemacht, so ’n elendes Leben zu führen. Is einfach unnatürlich! Außerdem hab ich grauenhafte Geschichten von da gehört.« Tommy der Blinde erschauerte theatralisch. »Nix als Wilde und Kreaturen, die kein Christengott im Leben nich erschaffen haben kann. Monster mit Dutzenden von Beinen und dann wieder welche ganz ohne! Uahh!« Er rollte die Augen, »’n richtiger Höllenort, echt. Glauben Se mir!«
»Dann gehen Sie kein Risiko ein, dort hingeschickt zu werden«, riet ihm Monk ohne jedes Mitgefühl. »Bringen Sie mich zum Fälscher.«
»Sind Se auch sicher, daß es Mord war?« Tommy hegte offenbar Zweifel. Monk fragte sich, wieviel davon einer gewissen Loyalität entsprang und wieviel auf das Abwägen der Vor und Nachteile zurückzuführen war.
»Und ob ich sicher bin!« erwiderte er mit gedämpfter Stimme; er wußte, daß ein drohender Unterton darin mitschwang. »Erst Mord, dann Raub. Silber und Jade sind gestohlen worden. Wissen Sie zufällig was über eine Tänzerin aus Jade? Rosa Jade, ungefähr fünfzehn Zentimeter hoch?«
Tommy befand sich in der Defensive. Seine Stimme klang vor Furcht dünn und nasal.
»Mit Hehlerei hab ich nix am Hut. Versuchen Se bloß nich, mir das anzuhängen.«
»Was ist mit dem Fälscher?«
»Schon gut, schon gut, ich bring Sie hin! Is dann was für mich drin?« Sein Optimismus war unverwüstlich. Wenn ihn schon die furchtbare Realität der Rookeries nicht kleinkriegen konnte, dann Monk erst recht nicht.
»Wenn’s der richtige Mann ist«, brummte er resigniert. Während Tommy sie durch ein weiteres Labyrinth aus Gassen und Treppenfluchten dirigierte, überlegte Monk, wie weit sie wohl tatsächlich vorwärts gekommen waren. Er hatte den starken Verdacht, daß die Aktion nur dazu diente, ihren Orientierungssinn durcheinanderzubringen. Schließlich blieben sie vor einer großen Tür stehen. Tommy der Blinde hämmerte kurz und energisch dagegen und verschwand, ehe sie vor ihnen aufging.
Der dahinterliegende Raum war hell erleuchtet; es roch verbrannt. Monk trat ein, blickte unwillkürlich an die Decke und sah gläserne Oberlichter. Auch die Wände waren mit großen Fenstern ausgestattet. Die mühsame Detailarbeit eines Fälschers erforderte viel Licht.
Der einzige Anwesende drehte sich um, um die Eindringlinge
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