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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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eine Hand nach ihr aus, was sie jedoch völlig ignorierte. »Du hast ja keine Ahnung, was für grauenhafte Einzelheiten ans Licht kommen könnten – schlimmere Dinge, als du sie dir vorstellen kannst.«
    »Blödsinn!« fegte Hester seine Bemerkung resolut beiseite.
    »Meine Erlebnisse beinhalten einen Haufen Dinge, die dir nicht mal in deinen Alpträumen einfallen würden. Ich habe zerstückelte und zerfetzte Leichen gesehen, verhungerte und erfrorene Menschen, Menschen, die an Seuchen –«
    »Hester!« Charles explodierte. »Um Gottes willen, reiß dich zusammen!«
    »Also versuch nicht mir einzureden, ich würde das Salongeplänkel über einen einzigen, jämmerlichen Mord nicht überstehen«, brachte Hester ihren Satz zu Ende.
    Charles’ Gesicht war dunkelrot. Monk beachtete er nicht mehr. »Ist dir eigentlich noch nie in deinen unweiblichen Sinn gekommen, daß Imogen ein empfindsames Gemüt besitzt und bisher ein wesentlich schicklicheres Leben geführt hat, als du es dir für dich ausgesucht hast? Ehrlich – manchmal bist du unerträglich!«
    »Imogen ist nicht annähernd so hilflos, wie du sie anscheinend gern hättest«, konterte Hester, obwohl sie leicht errötet war. »Genausowenig, denke ich, möchte sie die Wahrheit vertuschen, nur um einem unangenehmen Gespräch aus dem Weg zu gehen. Du traust ihr viel zu wenig zu.«
    Monk warf Charles einen raschen Blick zu und war sicher, daß er seine Schwester nach Kräften ins Gebet genommen hätte, wenn sie allein gewesen wären – auch wenn das vermutlich nicht weit geführt hätte. Er war heilfroh, daß es nicht sein Problem war.
    Imogen nahm die Angelegenheit selbst in die Hand.
    »Sie sagten, Sie wären zu einem unausweichlichen Schluß gekommen, Mr. Monk. Bitte verraten Sie uns, zu welchem.« Sie sah ihn verlegen, fast abbittend an. Diese Frau schien ein bewegteres Innenleben und eine größere Sensibilität für Kränkungen zu haben als jeder Mensch, dem er bislang begegnet war. Er wußte nicht, was er ihr antworten sollte; sein Schweigen hing im Raum wie schwere Gewitterwolken. Sie hob ein wenig das Kinn, wandte den Blick jedoch nicht ab.
    »Ich –« begann er und scheiterte kläglich. Dann machte er einen zweiten Anlauf: »Daß – daß der Mörder jemand ist, den Major Grey kannte, jemand aus denselben Gesellschaftskreisen –«
    »Dummes Zeug!« fiel Charles ihm unfreundlich ins Wort und baute sich in der Mitte des Raumes auf, als würde er es notfalls auch physisch mit ihm aufnehmen. »Leute aus Joscelin Greys Kreisen laufen nicht in der Gegend herum und bringen andere um. Wenn das alles ist, was Sie zu bieten haben, sollten Sie den Fall besser an einen fähigeren Kopf abgeben.«
    »Du bist unverhältnismäßig grob, Charles.« Imogens Augen brannten wie Feuer. »Es besteht keinerlei Grund zu der Annahme, daß Mr. Monk für seinen Beruf untauglich ist, und erst recht keine Veranlassung, es auszusprechen.«
    Charles’ ganzer Körper verkrampfte sich; eine solche Dreistigkeit konnte er beim besten Willen nicht hinnehmen.
    »Imogen –« begann er eisig, erinnerte sich dann aber an seinen Verweis auf die weibliche Zerbrechlichkeit, um seinen Ton zu mäßigen. »Ich kann gut verstehen, daß dich diese Angelegenheit mitnimmt. Wahrscheinlich ist es besser, du läßt uns allein. Geh auf dein Zimmer, und ruh dich etwas aus. Wenn du dich beruhigt hast, kannst du gern wieder runterkommen. Vielleicht nimmst du ein bißchen Baldrian?«
    »Ich bin weder müde, noch steht mir der Sinn nach Baldrian. Ich bin vollkommen ruhig, und die Polizei möchte mir ein paar Fragen stellen.« Sie wirbelte herum. »Das stimmt doch, Mr. Monk?«
    Er wünschte, er könnte sich an das erinnern, was er über die Latterlys wußte, doch fiel ihm nichts ein. Durch die Gefühle und Sehnsüchte, die Imogen in ihm weckte, benahm er sich wie ein Idiot. Sie sprach eine weichere, menschlichere Seite in ihm an. Er war mehr als der brillante, ehrgeizige, scharfzüngige, einzelgängerische Detektiv, und daran erinnerte sie ihn.
    »Hat Major Grey« – wagte er einen letzten Versuch –, »da Sie ihn relativ gut gekannt haben, Ihnen gegenüber vielleicht etwas darüber verlauten lassen, daß er um seine Sicherheit fürchtete, oder eine Person erwähnt, die ihn nicht mochte oder ihn schikanierte?« Er verfluchte sich insgeheim wegen der Holprigkeit, mit der er sich ausdrückte. »Hat er jemals mit Ihnen über Neider oder Rivalen gesprochen?«
    »Nein, gar nicht. Warum hätte ihm auch jemand den

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