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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Stuhl anzubieten, und las die Zeugenaussage des Portiers zu Ende.
    Lamb hatte ihn unermüdlich über sämtliche Lebewesen ausgefragt, die am fraglichen Abend in dem Haus ein und ausgegangen waren, ob es sich nun um Lieferanten, Botenjungen oder streunende Tiere handelte, und immer wieder wissen wollen, ob jemand unbemerkt in Greys Wohnung hätte gelangen können. Grimwade, der offenbar eine boshafte Unterstellung heraushörte, war pikiert. Selbstverständlich nicht! Botenjungen würden stets zur richtigen Adresse begleitet, nach Möglichkeit nehme er ihnen die Nachricht sogar höchstpersönlich ab und leite sie weiter. Und kein einziges streunendes Tier hätte das Gebäude je durch seine Anwesenheit besudelt – ekelhafter Abschaum, solch streunendes Viehzeug, zu nichts Besserem nutze, als überall Dreck zu hinterlassen. Wofür hielt ihn die Polizei eigentlich – wollte man ihn auf Teufel komm raus beleidigen?
    Monk hätte zu gern gewußt, was Lamb darauf erwidert hatte. Ihm wäre bestimmt eine passende Antwort über den relativen Nutzen herumstreunenden Viehzeugs und herumstreunender Menschen eingefallen! Selbst jetzt noch schossen ihm automatisch ein paar scharfe Entgegnungen durch den Kopf.
    Grimwade schwor Stein und Bein, es wären zwei Besucher gekommen – und nur zwei! Er war absolut sicher, daß sonst niemand an seinem Fensterchen vorbeigekommen war. Bei dem ersten, etwa gegen halb acht, habe es sich um eine Frau gehandelt, und er hätte nicht die Absicht zu verraten, zu wem sie wollte, denn Privatangelegenheiten müßten schließlich mit der nötigen Diskretion behandelt werden. Zu Mr. Grey wollte sie jedenfalls nicht, das wisse er ganz genau. Außerdem sei sie ein ziemlich zerbrechliches Geschöpf gewesen, das dem Toten bestimmt nicht diese furchtbaren Verletzungen hätte zufügen können. Der zweite Besucher war ein Mann, den Grimwade selbst zur entsprechenden Tür eskortiert und auch dahinter verschwinden gesehen hatte.
    Wer immer Grey ermordet hatte, mußte allem Anschein nach entweder einen der anderen Besucher als Köder für ein Ablenkungsmanöver benutzt haben, oder er hatte sich bereits in irgendeiner geschickten Tarnung unbemerkt ins Haus geschlichen und längst dort aufgehalten. Das klang zumindest logisch.
    Monk legte das Blatt zur Seite. Sie mußten sich Grimwade noch einmal vornehmen, auch die entferntesten Möglichkeiten mit ihm durchsprechen. Eventuell stießen sie dabei auf etwas Neues.
    Evan ließ sich auf das Fensterbrett sinken.
    Mrs. Huggins Erklärung war genauso, wie Evan sie beschrieben hatte, wenn auch ein wenig wortreicher. Monk las sie nur, weil er Zeit zum Nachdenken schinden wollte.
    Anschließend widmete er sich dem letzten Blatt, dem Bericht des Gerichtsmediziners. Er war von allen der unerfreulichste, wahrscheinlich aber der wichtigste. Die Handschrift war klein, unglaublich präzise und sehr rund. Monk stellte sich den Verfasser als schmächtigen Arzt mit runder Brille und peinlich sauberen Fingern vor. Erst viel später fragte er sich, ob er je eine solche Person gekannt hatte und ob es vielleicht die erste zarte Andeutung für seine wiederkehrende Erinnerung war.
    Der Bericht klang extrem klinisch, er erörterte den Zustand der Leiche, als handle es sich bei Joscelin Grey um irgendeine fremdartige Spezies, nicht um ein Individuum, ein menschliches Wesen mit Leidenschaften und Sorgen, Hoffnungen und Träumen, das gewaltsam und unvermittelt aus dem Leben gerissen worden war und in den letzten Augenblicken seines Daseins – die hier dermaßen gefühllos auseinandergepflückt wurden – unvorstellbares Entsetzen und unvorstellbaren Schmerz empfunden haben mußte.
    Die Leiche war um kurz nach halb zehn Uhr vormittags untersucht worden. Sie war laut Untersuchungsprotokoll die eines schlanken, aber gut genährten Mannes Anfang dreißig, der außer einer relativ frischen Wunde am rechten Oberschenkel, wegen der er möglicherweise etwas gehinkt hatte, allem Anschein nach unter keinerlei Gebrechen oder Krankheiten litt. Dem Arzt zufolge handelte es sich um eine fünf oder sechs Monate alte, recht oberflächliche Verletzung, wie er sie bei vielen Exsoldaten gesehen hatte. Der Mann war seines Erachtens zwischen acht und zwölf Stunden tot. Genaueres konnte er bedauerlicherweise nicht sagen.
    Die Todesursache war selbst für einen Laien auf den ersten Blick erkennbar gewesen: eine Reihe heftiger und brutaler Hiebe auf Kopf und Schultern des Opfers, vermutlich mit einem schweren Stock

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