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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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oder einer massiven Stange.
    Monk legte den Bericht auf den Schreibtisch zurück; die detailgetreue Darstellung der Todesumstände hatte ihn ernüchtert. Die emotionslose, kalte Sprache ließ ein so unangenehmes Faktum wie den Tod nur noch greifbarer werden. Monk sah deutlich den Leichnam vor seinem geistigen Auge, beschwor in seiner Phantasie den süßlichen Verwesungsgestank und das Summen der Fliegen herauf. Hatte er mit vielen Mordfällen zu tun gehabt? Er konnte schlecht danach fragen.
    »Ekelhaft«, sagte er, ohne Evan anzusehen.
    »Und wie«, pflichtete der ihm kopfschüttelnd bei. »Die Zeitungen machten damals ein Mordstheater, gingen auf uns los, weil wir der Öffentlichkeit keinen Mörder präsentieren konnten. Abgesehen davon, daß Greys Tod viele Leute nervös gemacht hatte, ist der Mecklenburg Square eine ziemlich gute Adresse, und wenn man dort schon nicht sicher war, wo dann? Außerdem war Joscelin Grey ein allseits beliebter, recht harmloser, junger Exoffizier aus bester Familie. Er diente an der Krim und wurde wegen einer Kriegsverletzung aus dem Heer entlassen. Seine Akte kann sich sehen lassen: Mitglied der Charge of the Light Brigade, schwerverwundet während der Belagerung von Sewastopol.« In Evans Gesicht zuckte es ein wenig, teils aus Verlegenheit, teils aus Mitgefühl. »Viele Leute haben den Eindruck, sein Vaterland hätte ihn im Stich gelassen. Erst läßt es quasi zu, daß ihm so etwas überhaupt passiert, und dann wird der Täter noch nicht mal gefaßt.« Er schaute Monk an und bat ihn mit seinem Blick für diese unfaire Einstellung um Verzeihung – und dafür, daß er sie verstand. »Ich weiß, das ist ungerecht, aber ein Anflug von Kreuzrittertum läßt nun mal die Zeitungskassen klingeln; Sie wissen doch – das Motiv heiligt die Mittel! Und die herumziehenden Revolverschnauzen haben natürlich jede Menge Liedchen darüber komponiert: von wegen heimgekehrter Volksheld und so weiter!«
    Monks Mundwinkel bogen sich nach unten.
    »War’s schlimm?«
    »Ziemlich«, gab Evan achselzuckend zu. »Und wir haben nicht die geringste Spur. Wir haben das bißchen Beweismaterial immer wieder durchgekaut, und es gibt nichts, aber auch gar nichts, wodurch man ihn mit einer anderen Person in Verbindung bringen könnte. Jeder x-beliebige Straßenstrolch kann ins Haus gelangt sein, wenn er schlau genug war, den Portier zu umgehen. Niemand sah oder hörte irgendwas Nützliches. Wir sind genau da, wo wir angefangen haben.« Er stand verdrossen auf und kam zum Tisch getrottet. »Ich denke, Sie sollten sich die Beweisstücke einmal ansehen, auch wenn es nicht viel zu sehen gibt. Und dann möchten Sie vermutlich einen Blick in die Wohnung werfen, um wenigstens einen Eindruck vom Tatort zu gewinnen.«
    Monk stand ebenfalls auf.
    »Ja, das möchte ich. Man weiß ja nie, vielleicht fällt uns doch noch etwas auf.« Obschon er es sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte. Wenn Lamb und dieser scharfsinnige, gewiefte Polizeinovize schon keinen Erfolg gehabt hatten, was sollte er dann noch ausrichten? Er spürte, wie ihn die Angst zu versagen langsam von allen Seiten einkreiste, dunkel und bedrohlich. Hatte Runcorn ihm diesen Fall übergeben, weil er genau wußte, daß Monk scheitern würde? War es ein dezenter und ausgesprochen wirkungsvoller Weg, Monk loszuwerden, ohne herzlos zu erscheinen? Wie konnte er mit Sicherheit ausschließen, daß Runcorn kein alter Feind von ihm war? Hatte er seinem Vorgesetzten irgendwann einmal übel mitgespielt? Die Möglichkeit bestand durchaus. Was bisher an schemenhaften Umrissen seines Charakters aufgetaucht war, hatte nicht gerade durch spontan empfundenes Mitgefühl oder plötzliche Freundlichkeit und Wärme geglänzt. Er lernte sich kennen, wie ein Fremder ihn kennenlernen würde, und was er bis jetzt an sich entdeckt hatte, erfüllte ihn keineswegs mit Stolz. Er konnte Evan wesentlich besser leiden als sich selbst.
    Sein junger Kollege marschierte in flottem Tempo vor ihm her, seine langen Beine trugen ihn erstaunlich schnell davon. Jede Faser in Monk wollte ihm vertrauen, trotzdem war er durch seine Unwissenheit fast bis zur Bewegungslosigkeit gelähmt. Jedes sichere Fleckchen Erde unter seinen Füßen verwandelte sich durch sein Gewicht in Treibsand. Er wußte nichts. Sein Leben war eine einzige Mutmaßung, ein sich ständig wiederholendes Rätselraten.
    Er handelte und reagierte automatisch und hatte außer seinem Instinkt und seinen eingefleischten Angewohnheiten

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