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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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gepflegt, dem georgianischen Stil getreu ganz in Blau gehalten und mit weißlackierten Zierleisten versehen. Monk sah den Hutständer mit der Abstellmöglichkeit für Stöcke und Regenschirme, das Tischchen mit den Visitenkarten. Evan stakste steifbeinig voraus und öffnete die Tür zum Wohnzimmer.
    Monk ging ihm nach. Er war nicht sicher, was er vorzufinden erwartete. Auch sein Körper befand sich in Alarmbereitschaft, als rechne er mit einem Angriff, mit irgend etwas Plötzlichem und Grauenhaftem, das jeglicher Vernunft zuwiderlief.
    Der Raum war aufwendig tapeziert, was eine horrende Summe Geld verschlungen haben mußte, im trüben Tageslicht – ohne den warmen Schein der Gaslampen oder des Kaminfeuers – jedoch kaum zur Geltung kam. Die wedgwoodblauen Wände wirkten auf den ersten Blick makellos, die weißen Zierleisten schienen nicht den kleinsten Kratzer zu haben, doch über dem polierten Holz von Chiffoniere und Sekretär lag eine zarte Staubschicht, und die Farben des Teppichs wurden durch einen unsichtbaren Film gedämpft. Sein Blick glitt automatisch zum Fenster, von dort aus über die restlichen Möbel – ein Beistelltischchen mit gedrechselten Beinen, dessen Kanten wie umgestülpte Teigdecken aussahen, einen Blumenständer mit einer japanischen Schale darauf, einen Bücherschrank aus Mahagoni – und blieb schließlich an dem umgestürzten Sessel und dem direkt davor liegenden, ramponierten Wohnzimmertisch hängen. Seine bleiche Holzunterseite bildete einen beinah obszönen Kontrast zu der weichen Satinhaut des Sessels; er sah aus wie ein Tier, das alle viere in die Luft streckt.
    Und dann sah Monk den Blutfleck auf dem Boden. Er war nicht besonders groß, aber sehr dunkel, fast schwarz. Grey mußte an dieser Stelle ziemlich viel Blut verloren haben. Er blickte zur Seite und stellte auf diese Weise fest, daß es sich bei dem, was er für ein Teppichmuster gehalten hatte, offensichtlich um weitere Blutspritzer handelte, nur waren sie heller. An der gegenüberliegenden Wand hing ein Bild schief. Er ging hinüber, um es sich genauer anzusehen, und entdeckte neben dem Bild eine Schramme an der Wand sowie einige leichte Kratzer auf dem Motiv selbst. Es handelte sich um ein miserables, in grellen Blautönen gehaltenes Aquarell der Bucht von Neapel; im Hintergrund ragte ein unförmiger Vesuv gen Himmel.
    »Es muß ein beachtlicher Kampf stattgefunden haben«, sagte er ruhig.
    »Allerdings, Sir«, erwiderte Evan, der unschlüssig mitten im Raum stand. »Arme, Schultern und Rumpf wiesen zahlreiche Blutergüsse auf, außerdem war ein Knöchel aufgeschürft. Ich würde sagen, er hat sich ordentlich gehalten.«
    Monk schaute ihn stirnrunzelnd an.
    »Ich kann mich nicht erinnern, etwas Derartiges im Bericht des Gerichtsmediziners gelesen zu haben.«
    »Ich glaube, dort hieß es bloß ›Anzeichen für einen Kampf‹, Sir. Aber das geht aus dem Zustand dieses Zimmers sowieso eindeutig hervor.« Evan ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. »Auf dem Sessel ist auch Blut.« Er deutete auf das dick gepolsterte Monstrum, das auf dem Rücken lag. »Dort hat er gelegen – mit dem Kopf auf dem Fußboden. Wir sind hinter einem äußerst brutalen Kerl her, Sir«, verkündete er abschließend und schüttelte sich leicht.
    »In der Tat.« Monk starrte finster umher und versuchte sich vorzustellen, was vor etwa sechs Wochen in diesem Raum vorgegangen sein mochte, welches Grauen, welche Furcht hier geherrscht haben mußten, wie Körper aneinanderprallten, zwei Schatten hin und herglitten – Schatten deshalb, weil er sie nicht kannte –, wie Möbel umstürzten, Glas klirrend zu Bruch ging. Und plötzlich wurde die Vorstellung fast real, klarer und weitaus drastischer als alles, was sich seine Phantasie ausdenken konnte, glutrote Augenblicke der Raserei und des Entsetzens, der niedersausende Stock und dann war es wieder vorbei, und er blieb zitternd und der Übelkeit nahe zurück. Was, in Gottes Namen, hatte sich in diesem Zimmer abgespielt, daß der Widerhall des Geschehenen immer noch überall lauerte wie ein gequälter Geist – oder wie eine reißende Bestie?
    Er wandte sich ab und ging, tastete wie blind nach der Tür, ohne sich weiter um Evan zu kümmern. Er mußte hier raus, hinunter auf die vertraute und schmutzige Straße – dorthin, wo es Stimmen gab, wo der Alltag zwar anstrengend, aber greifbar war. Er wußte nicht einmal, ob Evan ihm folgte.

3
    Kaum stand Monk draußen auf der Straße, ging es ihm besser,

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