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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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nicht ein, statt dessen forderte er Evan mit einem Wink auf, die Pappschachtel wegzulegen. »Wir sollten uns besser auf den Weg machen und uns am Mecklenburg Square umsehen.«
    »Jawohl, Sir.« Evan richtete sich gehorsam zu voller Größe auf. »Es ist ein Fußmarsch von etwa einer halben Stunde. Schaffen Sie das schon?«
    »Was, die paar Kilometer? Ich hab mir den Arm gebrochen, Mann, nicht beide Beine!« Und mit diesen Worten riß Monk Hut und Mantel vom Haken.
    Evan erwies sich als eine Spur zu optimistisch. Dank Gegenwind und der nötigen Umsicht, um nicht mit Hausierern, anderen Fußgängern sowie dem Verkehr und dem Pferdemist auf den Straßen zu kollidieren, brauchten sie gut vierzig Minuten, bis sie den Mecklenburg Square erreicht, die Vorgärten umrundet und Nummer sechs ausfindig gemacht hatten. An der Ecke zur Doughty Street fuhrwerkte ein Junge emsig mit dem Besen auf der Kreuzung herum, und Monk fragte sich unwillkürlich, ob es wohl derselbe war wie an jenem Abend im Juli. Er spürte kurzzeitig Mitleid für dieses Kind in sich hochsteigen, das bei jedem Wetter hier draußen war, oft bei Hagel oder Schnee, und sich vor die Rollwagen und Karren stürzen mußte, um Dung aufzuschaufeln. Was für eine jämmerliche Art und Weise, seinen Lebensunterhalt zu verdienen! Doch dann ärgerte er sich über sich selbst – das war dummer und sentimentaler Blödsinn. Er mußte auf dem Boden der Tatsachen bleiben! Er straffte sich und marschierte in die Eingangshalle. Vor der Tür zu einem winzigen Büro, einem engen Kabuff besser gesagt, stand der Portier.
    »Kann ich Ihnen helfen, Sir?« Er trat ihnen mit liebenswürdiger Miene entgegen, machte jedoch gleichzeitig ein weiteres Vordringen unmöglich.
    »Grimwade?« fragte Monk.
    »Ja, Sir?« Der Mann war ganz offensichtlich verblüfft und auch verlegen. »Tut mir leid, Sir, aber ich wüßte nicht, daß ich Ihnen schon mal begegnet bin. Normalerweise habe ich ein gutes Gedächtnis für Gesichter –« Er ließ den Satz unvollendet und hoffte anscheinend, Monk würde ihm weiterhelfen. Dann schaute er zu Evan hinüber, woraufhin ein Funken von Wiedererkennen in seinem Gesicht aufblitzte.
    »Polizei«, sagte Monk schlicht. »Wir möchten uns Major Greys Wohnung gern noch einmal ansehen. Haben Sie den Schlüssel?«
    Die Erleichterung des Mannes war sehr gemischt.
    »O ja, Sir, und wir haben niemand reingelassen. Das Schloß is immer noch so, wie Mr. Lamb es hinterlassen hat.«
    »Gut. Vielen Dank.« Monk hatte damit gerechnet, daß der Portier einen Dienstausweis sehen wollte, doch der Mann schien voll und ganz damit zufrieden zu sein, daß er Evan kannte, und verschwand hinter seinem Kämmerchen, um den Schlüssel zu holen.
    Einen Augenblick später war er zurück und führte sie mit dem gebührenden Ernst angesichts eines Todesfalles – obendrein eines gewaltsam herbeigeführten – die Treppe hinauf. Monk beschlich kurzzeitig die beklemmende Befürchtung, Joscelin Greys Leiche könnte noch dort oben liegen, unberührt und nur auf ihr Erscheinen wartend.
    Aber das war albern, und er schüttelte den Gedanken entschlossen ab. Allmählich wuchs sich das Ganze zu einem immer wiederkehrenden Alptraum aus. Lächerlich – als könnten sich Ereignisse wiederholen!
    »Wir sind da, Sir.« Evan stand mit dem Schlüssel des Portiers in der Hand vor einer Tür. »Es gibt natürlich auch eine Hintertür, die in die Küche führt und für Lieferanten und Dienstpersonal bestimmt ist, aber sie mündet ebenfalls in diesen Flur, nur etwa zehn Meter weiter vorn.«
    Monk konzentrierte sich mühsam auf die aktuellen Geschehnisse.
    »Am Portier muß man aber trotzdem vorbei?«
    »Sicher, Sir. Es hat nicht viel Sinn, einen Portier einzustellen, wenn man trotzdem unbemerkt ins Haus gelangen kann. Dann könnte einen ja jeder Bettler und Hausierer nach Herzenslust belästigen.« Er schnitt eine einzigartige Grimasse, während er versuchte, sich die Gepflogenheiten der Bessergestellten auszumalen. »Und die Gläubiger erst!«
    »Ja, die ganz besonders«, bestätigte Monk mit sardonischem Grinsen.
    Evan drehte sich um und schob den Schlüssel ins Schloß. Er zögerte, als würde ihn etwas zurückhalten, als wäre der Ort noch von der Erinnerung an die brutale Gewalt behaftet, deren Spuren er dort drinnen gesehen hatte. Oder projizierte Monk lediglich seine eigenen Phantastereien auf jemand anderen?
    Die kleine Diele war genauso, wie Evan sie beschrieben hatte: aufgeräumt, sehr sauber und

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