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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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wieder auf sein Opfer ein, wenn es längst tot ist.«
    Shelburne zuckte zusammen. »Es sei denn, er ist verrückt! Und genau das ist meine Meinung: Sie haben es mit einem Irren zu tun, Mr. – äh.« Er erinnerte sich nicht mehr an Monks Namen und wartete auch nicht ab, bis dieser ihn wiederholte. »Es besteht wohl kaum die Chance, daß Sie ihn jetzt noch schnappen. Man sollte Sie wahrscheinlich besser dafür einsetzen, Straßenräuber oder Taschendiebe zur Strecke bringen – oder was immer Sie normalerweise tun.«
    Monk mußte ziemlich kämpfen, um seine Wut hinunterzuschlucken. »Lady Shelburne ist da offensichtlich anderer Meinung.«
    Lovel Grey war sich seiner Unverschämtheit nicht bewußt; einem Polizisten gegenüber konnte man gar nicht unverschämt sein.
    »Mama?« Für den Bruchteil einer Sekunde flackerte in seinem Gesicht eine Gefühlsregung auf. »Ja, sicher. Frauen sind nun mal so. Ich fürchte, sie hat Joscelins Tod sehr schwergenommen – schwerer noch, als wenn er an der Krim ums Leben gekommen wäre.« Letzteres schien ihn ein wenig zu verblüffen.
    »Das ist ganz normal«, fuhr Monk hartnäckig fort; er hatte beschlossen, es anders zu versuchen. »Soviel ich weiß, war er ein schrecklich netter Bursche – überall beliebt?«
    Shelburne lehnte am Kaminsims; seine Stiefel glänzten im hellen Licht der Sonnenstrahlen, die sich durch die breiten Fenster verschwenderisch in das Zimmer ergossen. Er kickte verdrossen gegen das Kamingitter aus echtem Messing.
    »Joscelin? Ja, ich schätze, das war er. Immer fröhlich, immer ein Lächeln auf den Lippen. Talentierter Musiker und Geschichtenerzähler und so weiter. Sie wissen schon. Ich weiß, daß meine Frau ihn sehr gern hatte. Was für ein Jammer – und auch noch so sinnlos! Alles nur wegen einem miesen, dahergelaufenen Irren!« Er schüttelte den Kopf. »Furchtbar für Mutter.«
    »Kam er oft hierher?« Monk glaubte, einen verheißungsvollen Nerv getroffen zu haben.
    »Ach, alle paar Monate. Wieso?« Shelburne hob den Kopf.
    »Sie denken doch wohl nicht, jemand wäre ihm von hier aus gefolgt?«
    »Jede Möglichkeit verdient es, daß man sich mit ihr beschäftigt, Sir.« Monk verteilte sein Gewicht ein wenig auf der Kante der Anrichte. »War er kurz vor seinem Tod noch hier?«
    »Ja, das war er tatsächlich! Vor einigen Wochen, vielleicht etwas weniger. Aber ich glaube, Sie sind auf der falschen Spur. Jeder hier kannte ihn seit Jahren, und keiner hatte etwas gegen ihn.« Ein Schatten glitt über sein Gesicht. »Meiner Meinung nach war er der erklärte Liebling des gesamten Dienstpersonals. Hatte stets ein freundliches Wort für die Leute parat, erinnerte sich an ihre Namen, obwohl er schon viele Jahre nicht mehr hier wohnte.«
    Monk versuchte sich ein Bild zu machen: der solide, schwerfällige ältere Bruder – achtbar, aber langweilig; der mittlere bislang nicht mehr als eine schemenhafte Silhouette; schließlich der jüngste, der sich große Mühe gab und letztlich begriff, daß ihm sein Charme das eintrug, was seine Abstammung nicht vermochte, der die Leute zum Lachen brachte und ein wenig aus ihren selbsterrichteten Mausoleen der Förmlichkeiten hervorlockte, der sich für die Diener und ihre Angehörigen interessierte und somit anders als seine Brüder kleine Pluspunkte für sich verbuchen konnte – und die Zuneigung seiner Mutter.
    »Der Mensch kann seinen Haß verbergen, Sir«, sagte Monk laut, »und gewöhnlich tut er das auch, wenn ihm der Sinn nach Mord steht.«
    »Muß er wohl in dem Fall«, räumte Lovel ein; er richtete sich auf, blieb jedoch weiterhin mit dem Rücken zu der leeren Feuerstelle stehen. »Dennoch glaube ich, daß Sie auf dem Holzweg sind. Sehen Sie sich lieber in London nach einem gemeingefährlichen Irren um, einem gewalttätigen Einbrecher zum Beispiel; die Stadt muß voll davon sein! Haben Sie keine Kontaktpersonen? Leute, die der Polizei bestimmte Informationen liefern? Warum versuchen Sie’s nicht bei denen?«
    »Das haben wir getan, Sir – bis zum Umfallen. Mr. Lamb, mein Vorgänger, hat wochenlang jede Möglichkeit in dieser Richtung untersucht. Es war das erste, worum wir uns überhaupt gekümmert haben.« Monk beschloß, das Thema zu wechseln. Er hoffte, daß sich der Argwohn seines Gegenübers etwas gelegt hatte. »Womit hat Major Grey seine Lebenshaltungskosten finanziert, Sir? Wir konnten bisher keinerlei Geschäftsverbindungen entdecken.«
    »Wozu, in aller Welt, wollen Sie das nun wieder wissen?« Lovel war

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