Das Gesicht des Fremden
Geliebten seinen Erpresser – erschlug, damit er den Mund hielt, würde kaum davor zurückschrecken, einen einfachen Polizisten zu vernichten. »Brenzlig« war die pure Untertreibung!
Hatte Runcorn das absichtlich getan? Während er seine eigene Akte studierte, seine glänzende Karriere, die von einem Erfolg nach dem andern geprägt war, fragte er sich unwillkürlich, was der Preis dafür gewesen sein mochte und wer alles – außer ihm selbst – diesen Preis bezahlt hatte. Offensichtlich hatte er seine gesamten Kräfte in die Arbeit gesteckt, in die Perfektionierung seines kriminalistischen Spürsinns, seines Wissens, seines Benehmens, seiner Kleidung und seiner Sprache. Von seinem Blickwinkel – dem eines Fremden – aus betrachtet, trat sein Ehrgeiz nur allzu kraß hervor: die unzähligen Überstunden, das peinlich genaue Achten aufs Detail, die brillanten Geistesblitze, die Beurteilung seiner Kollegen und deren Fähigkeiten – und Schwächen… Er hatte stets für jede Aufgabe den Richtigen ausgesucht und dann, nach ihrer Erledigung, einen andern auserkoren. Seine ganze Loyalität schien dem Streben nach Gerechtigkeit gegolten zu haben. Hatte er allen Ernstes geglaubt, all das sei Runcorn verborgen geblieben, Runcorn, der ihm im Weg stand?
Sein Aufstieg vom Provinzler aus einem Northumberlander Fischerdorf zum Inspektor bei der Metropolitan Police war geradezu kometenhaft gewesen. Er hatte in zwölf Jahren mehr erreicht als die meisten Männer in zwanzig! Und er war Runcorn dicht auf den Fersen; beim gegenwärtigen Stand durfte er in Kürze auf die nächste Beförderung hoffen, was nichts anderes bedeutete als Runcorns Stuhl – oder noch eine Stufe höher.
Hing vielleicht alles weitere von dem Fall Grey ab?
Er wäre niemals so schnell so weit gekommen, ohne unterwegs auf einer Menge Leute herumzutrampeln. Monk fürchtete immer mehr, daß es ihm vollkommen egal gewesen sein könnte. Er hatte die Wahrheit zu seinem Gott erklärt und – wenn die Stimme des Gesetzes einmal unsicher war oder schwieg – gegebenenfalls auch das, was er für Gerechtigkeit hielt. Sollte er so etwas wie Mitleid oder echte Gefühle für die Opfer empfunden haben, ging es zumindest nirgends hervor. Selbst sein Zorn war unpersönlich gewesen: Er richtete sich gegen gesellschaftliche Zwänge, die Armut und Hilflosigkeit und infolgedessen Kriminalität hervorriefen, gegen die unbeschreiblich miserablen Zustände in den Elendsquartieren, gegen Ausbeutungsbetriebe, Wucher, Gewalt, Prostitution und Säuglingssterblichkeit.
Monk bewunderte den Mann, von dessen Persönlichkeit die Akten ein recht klares Bild zeichneten, bewunderte seine Sachkenntnis und seinen Verstand, seine Energie und Zähigkeit, sogar seinen Mut – aber es gelang ihm nicht, ihn zu mögen. Er entdeckte keine Spur von Wärme, nicht den leisesten Hinweis auf Hoffnungen oder Ängste, keine Eigenart, die verriet, daß ein menschliches Herz in seiner Brust schlug. Was einer entfernten Form von Gemütsbewegung noch am nächsten kam, war eine gewisse Rücksichtslosigkeit, mit der er Ungerechtigkeiten verfolgte; doch auch hier gewann er anhand der Worte auf dem Papier den Eindruck, daß der Mann, von dem die Rede war, lediglich das Unrecht haßte und die Leute, denen Unrecht geschah, für ihn nicht mehr waren als ein Nebenprodukt des eigentlichen Verbrechens.
Warum war Evan so versessen darauf, mit ihm zusammenzuarbeiten? Um von ihm zu lernen? Bei der Vorstellung, was er ihm da möglicherweise beibrachte, überkam ihn heftige Scham. Sollte er nicht besser von Evan etwas über Gefühle lernen und ihm zeigen, wie man exzellente Arbeit leistete, ohne vom Ehrgeiz zerfressen zu sein?
Es war nicht schwer nachzuvollziehen, daß Runcorn ihm bestenfalls mit gemischten Gefühlen gegenüberstand. Was mochte er ihm angetan haben während seines gnadenlosen Aufstiegs? Hatte er je einen Gedanken an Runcorn als Mensch verschwendet, nicht nur als Hindernis, das zwischen ihm und der nächsten Sprosse auf der Karriereleiter lag?
Monk starrte auf den Aktenberg. Der Mann, um den es darin ging, war ein völlig Fremder für ihn, ebenso eindimensional wie Joscelin Grey. Im Grunde war er ihm sogar noch fremder, da es, was Grey anbelangte, zumindest Leute gab, die ihn gemocht, ihn charmant und lustig gefunden hatten und seinen Verlust aus tiefstem Herzen bedauerten.
Monk dachte an die Frau aus der Kirche, Mrs. Latterly. Weshalb erinnerte er sich nicht an sie? Seit seinem Unfall hatte er sie erst
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