Das Gesicht des Fremden
war und zwei Jahre auf den Schlachtfeldern an der Krim verbracht hatte, wahrscheinlich ganz angenehm. Andererseits konnte die Behauptung, ein berühmtes Mordopfer habe hier gespeist, das – ohnehin blühende – Geschäft beträchtlich ankurbeln.
»Wie hat er ausgesehen?« wollte Evan wissen.
»Kommen Sie!« Der Wirt beäugte ihn mißtrauisch. »Sie sind doch dran an dem Fall, oder? Wissen Sie’s nich selber?«
»Ich bin ihm nie begegnet, als er noch am Leben war«, setzte Evan ihm überzeugend auseinander. »Das ist ein ganz schöner Unterschied, wissen Sie?«
Der Wirt nagte an seiner Unterlippe. »Klar isses das. Tut mir leid, Mann, war ’ne blöde Frage. Groß war er, ungefähr so gebaut wie Sie, ’n bißchen dünn – und immer piekfein angezogen! Sah schon wie ’n richtiger Edelmann aus, bevor er ’n Wort gesagt hat. Und richtig schöne blonde Haare hat er gehabt – und ’n unheimlich nettes Lächeln.«
»Charmant«, sagte Evan; es war eher eine Feststellung als eine Frage.
»Können Se laut sagen.«
»Beliebt?«
»Und ob. Hat immer ’n Haufen Geschichten erzählt. So was mögen die Leute – is gut gegen Langeweile.«
»Spendabel?«
»Spendabel?« Der Wirt hob die Brauen. »Nee – spendabel nich. Hat eigentlich mehr gekriegt als gegeben. Glaub nich, daß er besonders reich war. Die andern haben ihm gern einen spendiert – wie ich schon gesagt hab, war ’n ziemlich unterhaltsamer Knabe. Manchmal ’n bißchen protzig. War nich oft hier, einmal im Monat vielleicht, aber wenn, dann war er immer zu jedem freundlich.«
»Kam er regelmäßig?«
»Wie meinen Se das?«
»An einem bestimmten Tag?«
»Nee – immer ganz nach Lust und Laune. Manchmal zweimal im Monat, dann wieder zwei Monate gar nich.«
Hasardeur, dachte Evan bei sich; laut sagte er: »Vielen Dank.« Er trank seinen Apfelwein aus, legte ein Sixpencestück auf den Tisch und begab sich widerwillig in den nachlassenden Nieselregen hinaus.
Den restlichen Nachmittag verbrachte er bei Stiefelmachern, Hutmachern, Hemdenmachern und Schneidern, wo er genau das erfuhr, womit er gerechnet hatte – nichts, was ihm sein gesunder Menschenverstand nicht bereits geflüstert hätte.
Vor dem Findelhaus in der Guilford Street erstand er bei einem Straßenhändler ein frisches Stück Aalpastete, leistete sich für den langen Weg von dort nach St. James eine Kutsche und ließ sich direkt vor dem exquisiten Klub »Boodles« absetzen, in dem Joscelin Grey Mitglied gewesen war.
Hier mußte er seine Fragen wesentlich dezenter formulieren.
Er befand sich in einem der vornehmsten Londoner Klubs für Männer von Stand, und die Dienerschaft tratschte nicht über Klubmitglieder, wenn ihr an dem ausgesprochen angenehmen und lukrativen Beschäftigungsverhältnis gelegen war. Alles, was er in anderthalb Stunden umständlicher Fragerei herausbekam, war die Bestätigung, daß Major Grey tatsächlich Klubmitglied gewesen war, ziemlich regelmäßig hereingeschaut hatte, wenn er sich in der Stadt aufhielt, selbstverständlich – wie andere vornehme Herren auch gelegentlich dem Glücksspiel frönte und es möglicherweise hin und wieder eine Zeitlang dauerte, bis seine diesbezüglichen Schulden beglichen wurden, doch bezahlt wurden sie natürlich anstandslos. Kein Gentleman drücke sich vor einer Ehrenschuld; Händler vielleicht, aber andere Gentlemen – ausgeschlossen. Das stünde überhaupt nicht zur Debatte.
Dürfte sich Mr. Evan wohl mit einigen seiner engeren Bekannten unterhalten?
Sofern Mr. Evan eine entsprechende Vollmacht besaß, sei das gar keine Frage. Besaß Mr. Evan eine solche Vollmacht?
Nein, Mr. Evan besaß sie nicht.
Er machte sich wenig schlauer, dafür um so nachdenklicher auf den Rückweg.
Nach Evans Aufbruch lief Monk in flottem Tempo zum Polizeirevier und verschanzte sich in seinem Büro. Er suchte sämtliche Akten seiner früheren Fälle heraus und las sie durch. Was er erfuhr, war nur ein schwacher Trost.
Falls sich seine Befürchtungen bezüglich des Mordfalls Grey als zutreffend erweisen sollten – ein gesellschaftlicher Eklat, sexuelle Perversion, Erpressung und Mord –, blieben ihm als zuständigem Leiter der Ermittlungen nur zwei Möglichkeiten: Entweder er geriet in die prekäre Lage, daß sein Scheitern an die große Glocke gehängt wurde, oder er mußte die noch riskantere Aufgabe in Angriff nehmen, die mißlichen Umstände zu enthüllen, die letztlich zum großen Knall geführt hatten. Und ein Mensch, der seinen
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