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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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zweimal gesehen, dennoch konnte er ihr reizendes Gesicht nicht vergessen; es schien allgegenwärtig zu sein. Hatte er viel Zeit auf den Fall verwendet, den sie erwähnt hatte, war er deswegen oft bei ihr gewesen? Die Vorstellung, ihre Beziehung zueinander sei persönlicherer Natur gewesen, war absurd. Die Kluft zwischen ihnen war unüberbrückbar, und wenn er tatsächlich mit derartigen Gedanken gespielt haben sollte, mußte er noch arroganter und eingebildeter gewesen sein, als er ohnehin vermutete. Bei dem Gedanken daran, was er ihr durch sein Benehmen, seine Worte möglicherweise zu verstehen gegeben haben mochte, wurde er vor Scham rot. Außerdem hatte der Pfarrer sie mit »Mrs.« angesprochen – trug sie wegen des Todes ihres Schwiegervaters Schwarz oder weil sie Witwe war? Wenn er sie das nächste Mal sah, mußte er die Dinge unbedingt richtigstellen und ihr klarmachen, daß er absolut keine unlauteren Absichten hatte.
    Zuvor mußte er allerdings herausfinden, worum es bei dem Fall ging, abgesehen davon, daß ihr Schwiegervater vor kurzem gestorben war.
    Er durchsuchte sämtliche Unterlagen, alle Akten und den ganzen Schreibtisch, ohne auch nur den leisesten Hinweis auf einen Mr. Latterly zu entdecken. Dann kam ihm plötzlich ein deprimierender und naheliegender Gedanke: Man hatte den Fall einem Kollegen übergeben! Wie sollte es auch anders sein, wenn es ihm nicht gutgegangen war. Runcorn hätte die Sache kaum ruhen lassen, besonders wenn eventuell Mord im Spiel war.
    Warum hatte sich der neue Bearbeiter dann aber nicht mit Mrs. Latterly oder ihrem Ehemann in Verbindung gesetzt, sofern ein solcher existierte? Weil es keinen mehr gab? War das der Grund, weshalb sie ihn angesprochen hatte? Monk legte die Akten beiseite und machte sich auf den Weg zu Runcorns Büro. Als er an einem Fenster vorbeikam, stellte er zu seiner Überraschung fest, daß es draußen bereits dämmerte.
    Runcorn war zwar noch da, jedoch gerade im Begriff zu gehen. Monks Erscheinen schien ihn nicht zu wundern.
    »Na? Arbeiten Sie wieder zu den gewohnten Zeiten?« begrüßte er ihn spöttisch. »Kein Wunder, daß Sie keine Frau haben – sind eben mit Ihrem Job verheiratet. Tja, in kalten Winternächten ist das allerdings ein schwacher Trost«, fügte er mit unverhohlener Genugtuung hinzu. »Was gibt’s denn?«
    »Latterly.« Monk ärgerte sich über die Anspielung auf seine Arbeitswut. Vor dem Unfall hatte er seine Charaktereigenschaften und Angewohnheiten nicht sehen können, weil ihm die dazu nötige Distanz gefehlt hatte, doch jetzt war er in der Lage, sie leidenschaftslos zu beurteilen, als gehörten sie zu einem völlig Fremden.
    »Was?« Runcorn schaute ihn entgeistert an, die Stirn in verständnislose Falten gelegt; der nervöse Tick in seinem linken Auge erwachte zu neuem Leben.
    »Latterly«, wiederholte Monk. »Sie haben den Fall während meiner Abwesenheit vermutlich jemand anders übergeben?«
    »Nie davon gehört«, erwiderte Runcorn scharf.
    »Es ging um einen Mann namens Latterly. Er hat entweder Selbstmord begangen oder ist umgebracht worden –«
    Runcorn erhob sich. Er ging zum Garderobenständer und nahm seinen zweckdienlichen, fad aussehenden Mantel vom Haken.
    »Ach, der! Sie meinten, es wäre Selbstmord gewesen, und haben ihn bereits Wochen vor dem Unfall zu den Akten gelegt. Was ist los mit Ihnen? Läßt Ihr Gedächtnis langsam nach?«
    »Nein, mein Gedächtnis läßt nicht nach!« fuhr Monk ihn an. Er spürte eine Hitzewelle in sich hochsteigen und betete zu Gott, daß man es seinem Gesicht nicht ansah. »Aber ich konnte die Unterlagen nicht mehr finden, also nahm ich an, irgend etwas hätte Sie veranlaßt, den Fall wiederaufzunehmen, und Sie hätten ihn jemand anders übergeben.«
    »Soso.« Runcorn warf ihm einen finsteren Blick zu und fuhr fort, Mantel und Handschuhe anzuziehen. »Nun, nichts hat mich veranlaßt, und der Fall ist abgeschlossen. Niemand hat ihn übernommen. Vielleicht haben Sie einfach vergessen, es zu notieren? Würden Sie Latterly, der sich aller Wahrscheinlichkeit nach selbst ins Jenseits befördert hat, der arme Teufel, jetzt aus Ihren Gedanken verbannen und sich wieder mit Grey befassen, der das mit hundertprozentiger Sicherheit nicht tat? Sind Sie schon weitergekommen? Meine Güte, Monk – man ist Besseres von Ihnen gewohnt! Haben Sie aus diesem Yeats irgendwas rausgekriegt?«
    »Nein, Sir, nichts Wesentliches«, gab Monk unüberhör gereizt zurück.
    Runcorn wandte sich zu ihm und sah ihm

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