Das Gesicht
trocken und verzog keine Miene. Sein gerötetes Gesicht war mit glitzerndem Schweiß überzogen. »Die Wasserleiche ist noch nicht identifiziert worden, aber es sieht ganz so aus, als sei sie mit Chloroform betäubt, an einen ungestörten Ort gebracht und mit einem Stilett erstochen worden, mitten ins Herz, ehe ihr die Hände amputiert wurden.«
Als Harker, in dessen glasigem Gesicht die Sonne des vergangenen Tages abgefüllt war, weiterhin dort stehen blieb, sagte Michael: »Ja, und?«
»Ihr habt jeden überprüft, der leicht an Chloroform rankommt. Forscher, die Tierversuche anstellen, Mitarbeiter in Firmen für Ärztebedarf … Aber auf zwei Webseiten werden Rezepte angeboten, wie man das Zeug in der eigenen Küche im Spülbecken herstellt, aus Sachen, die man im Supermarkt kaufen kann. Ich sage ja nur, dass dieser Fall in keine der üblichen Schubladen passt. Ihr sucht nach etwas, was ihr noch nie gesehen habt. Um diesem Kerl das Handwerk zu legen, müsst ihr euch an einem unheimlicheren Ort umschauen – noch eine Stufe tiefer als die Hölle.«
Harker wandte sich von ihnen ab und ging.
Carson und Michael sahen ihm nach. Dann sagte Michael:
»Was war denn das ? Es sah mir fast nach echter Sorge um die Bevölkerung aus.«
»Er war früher mal ein guter Bulle. Vielleicht ist er es ja irgendwo immer noch.«
Michael schüttelte den Kopf. »Mir war er als Arschloch lieber. «
8
Aus dem letzten schwachen Tageslicht kam Deucalion, mit einem Koffer in der Hand und in Kleidungsstücken, die für die schwüle Nacht viel zu warm waren.
Dieses Viertel hatte entschieden weniger Glanz zu bieten als das French Quarter. Schmuddelige Bars, Leihhäuser, Schnapsläden, Drogenhöhlen. Das Luxe, früher einmal ein elegantes Lichtspieltheater, war zu einem schäbigen Zeugen der Vergangenheit heruntergekommen, spezialisiert auf Wiederaufnahmen von Filmklassikern. Auf der Anzeigetafel war in losen Plastikbuchstaben mit unregelmäßigen Zwischenräumen das Abendprogramm angekündigt:
TÄGL DO-SO
DON SIEGEL FESTIVAL
DIE DÄMONISCHEN
DIE INS GRAS BEISSEN
Die Anzeigetafel war dunkel, das Kino entweder für die heutige Abendvorstellung oder dauerhaft geschlossen.
Nicht alle Straßenlaternen waren in Betrieb. Als er sich dem Luxe näherte, achtete Deucalion darauf, sich stets im Schatten zu halten.
Er kam an ein paar Fußgängern vorbei und wandte unmerklich das Gesicht ab, um nur durch seine Körpergröße aufzufallen.
Er schlüpfte in einen schmalen Gehweg neben dem Filmpalast. Mehr als zwei Jahrhunderte lang hatte er Hintertüren oder noch verborgenere Eingänge benutzt.
Hinter dem Kino verströmte eine nackte Glühbirne in einem Drahtgeflecht über der Hintertür ihren Lichtschein, der so trostlos und grau war wie diese Gasse, in der Abfälle herumlagen.
Mit ihren zahllosen gesprungenen und abblätternden Farbschichten nahm sich die Tür in der Backsteinmauer wie eine verschorfte Wunde aus. Deucalion betrachtete den Riegel, das Schloss … und entschied sich dafür, die Klingel zu benutzen.
Er drückte auf den Knopf, und ein lautes Surren ließ die Tür vibrieren. Das Läuten musste wie ein Feueralarm durch das Innere des stillen Lichtspieltheaters hallen.
Wenige Momente später hörte er drinnen schwere Schritte. Er konnte spüren, dass er durch das Fischauge des Spions gemustert wurde.
Ein Schlüssel drehte sich klappernd im Schloss, und in der offenen Tür tauchte ein sanftes Gesicht mit fröhlichen Augen auf, die aus ungeheuren Fleischmassen hervorlugten. Mit etwa einem Meter siebzig und knapp drei Zentnern war dieser Kerl doppelt so viel Mensch, wie er hätte sein sollen.
»Bist du Jelly Biggs?«, fragte Deucalion.
»Sehe ich etwa so aus, als wäre ich der nicht?«
»Du bist nicht fett genug.«
»Als ich noch ein Star auf den Jahrmärkten war, habe ich fast drei Zentner mehr gewogen. Ich bin nur noch die Hälfte dessen, was ich früher einmal war.«
»Ben hat mich hierher bestellt. Ich bin Deucalion.«
»Ja, das dachte ich mir schon. In den alten Zeiten war ein Gesicht wie deines auf den Jahrmärkten Gold wert.«
»Wir können uns beide glücklich schätzen, was?«
Biggs trat einen Schritt zurück, um Deucalion einzulassen, und sagte: »Ben hat mir viel über dich erzählt. Aber die Tätowierung hat er nicht erwähnt.«
»Die ist neu.«
»Heute sind die ja ganz groß in Mode«, sagte Jelly Biggs.
Deucalion trat über die Schwelle in eine geräumige, wenn auch schäbige Diele. »Und ich«, sagte er
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