Das Gesicht
haben, dass sich auf dem Fußboden in der offenen Tür zum Schlafzimmer etwas bewegte. Als sie den Kopf umwandte, war dort nichts.
Da sie jetzt neugierig geworden war, ging sie trotzdem ins Schlafzimmer und sah gerade noch die seidene Tagesdecke flattern, weil in dem Moment etwas unter das riesige Bett geschlüpft war.
Sie hatten keine Haustiere, keine Hunde, keine Katzen.
Victor würde wütend werden, falls sich herausstellen sollte, dass sich eine Ratte ins Haus geschlichen hatte. Wenn es um Ungeziefer ging, sank seine Toleranz auf null.
Erika war so beschaffen, dass sie vor Gefahren auf der Hut war, aber nichts übermäßig fürchtete – obgleich ihr programmierter Respekt vor ihrem Schöpfer zeitweilig an Furcht grenzte.
Wäre eine Ratte ins Haus gelangt und hätte sich jetzt unter dem Bett verborgen, dann hätte sie nicht gezögert, sie zu fangen und sie zu beseitigen.
Sie stellte die Kate Spades ab und ließ sich neben dem Bett auf die Knie sinken. Sie zweifelte nicht daran, dass ihre Reflexe flink genug waren, um eine davonhuschende Ratte zu schnappen.
Als sie die Tagesdecke hochhob und unter das Bett sah, brauchten ihre außerordentlich guten Augen keine Taschenlampe.
Es lauerte aber nichts unter dem Sprungfederrahmen.
Sie stand auf und sah sich sorgfältig im Zimmer um. Sie fühlte, dass etwas da war, aber sie hatte keine Zeit, hinter jedem Möbelstück danach zu suchen.
Da ihr bewusst war, dass ihr die Zeit mit der Geschwindigkeit einer Ratte davonraste, setzte sie sich dicht vor dem Kamin auf eine Stuhlkante und zog ihre Schuhe an. Sie waren wunderschön, aber sie hätte sie noch lieber gemocht, wenn sie sie selbst ausgesucht hätte.
Einen Moment lang blieb sie sitzen und lauschte. Stille. Aber es war die Art von Stille, die andeutete, dass etwas sie belauschte, wie auch sie es belauschte.
Als sie aus dem Schlafzimmer in den Flur trat, machte sie die Tür hinter sich zu. Sie schloss fest. Nichts konnte darunter durchschlüpfen. Falls im Schlafzimmer eine Ratte frei umherlief, konnte sie nicht nach unten gelangen und die Abendgesellschaft verderben.
Erika stieg die Prachttreppe hinunter, und in dem Moment, als sie die Eingangshalle erreichte, läutete es an der Tür. Die ersten Gäste trafen ein.
21
Als Roy Pribeaux für seine Verabredung mit Candace – diese Augen! – in eine schwarze Freizeithose, eine sportliche hellblaue Seidenjacke und ein weißes Leinenhemd schlüpfte, brachte ein Nachrichtensender im Fernsehen einen Bericht über den Chirurgen.
Was für einen absurden Namen sie ihm gegeben hatten! Er war ein Romantiker. Er war ein Idealist, der aus einer Familie
von Idealisten stammte. Er war Purist. Er war vieles, aber ein Chirurg war er nicht.
Er wusste, dass sie von ihm sprachen, obwohl er die Reaktion der Medien auf seine Ausbeute nicht im Einzelnen verfolgte. Er hatte seine Sammlung weiblicher Vollkommenheit schließlich nicht in der Hoffnung begonnen, eine Berühmtheit zu werden. Ruhm übte keinen Reiz auf ihn aus.
Natürlich weckte sein Vorhaben aus allen erdenklichen falschen Gründen das Interesse der Öffentlichkeit. Die Leute sahen Gewalttätigkeit dahinter, nicht Kunst. Sie sahen Blut, nicht das Werk eines Träumers, der in allem die Vollkommenheit suchte.
Für die Medien und die Zuschauer, aus denen sie Kapital schlagen wollten, hatte er nichts als Verachtung übrig. Aufwiegler, die das Volk für dumm verkauften.
Da er selbst von einer prominenten Politikerfamilie abstammte – sein Vater und sein Großvater hatten der Stadt New Orleans und dem Staate Louisiana gedient –, hatte er gesehen, mit welcher Leichtigkeit sich die Öffentlichkeit manipulieren ließ, wenn man Neid und Furcht geschickt genug einsetzte. Seine Familie hatte darin großes Geschick bewiesen.
Im Zuge dessen hatten sich die Pribeaux’ enorm bereichert. Sein Großvater und sein Vater hatten sich im öffentlichen Dienst so gut gemacht, dass Roy es nie nötig gehabt hatte, zu arbeiten, und es auch nie nötig haben würde.
Wie die großen Künstler der Renaissance hatte auch er seine Gönner: Generationen von Steuerzahlern. Sein Erbe gestattete es ihm, sein Leben der Suche nach der vollkommenen Schönheit zu widmen.
Als der Fernsehreporter die beiden jüngsten Opfer erwähnte, wurde Roys Aufmerksamkeit plötzlich geweckt, weil ein unbekannter Name – Bobby Allwine – gemeinsam mit Elizabeth Lavenza genannt und mit ihr in Verbindung gebracht
wurde. Er hatte Elizabeths hübsche Hände seiner
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