Das Gespinst des Bösen
Monster
Als Jane aus dem Schulbus stieg, stand vor dem Pfarrhaus ein silbergraues Auto, das sie nicht kannte.
Sie ging hinüber. Sah aus wie eins dieser Hybridautos, die zum Teil mit Urin oder so betrieben wurden, kosteten ein Vermögen, aber der Fahrer würde im Öko-Paradies garantiert als Märtyrer aufgenommen werden. Der Innenraum des Autos war sehr sauber, auf der Ablage lag ein Paar lederner Frauenhandschuhe.
Jane ging in entgegengesetzter Richtung über den Marktplatz und hoffte, wer immer das war, würde bald verschwinden. Sie brauchte ein bisschen Zeit mit Mom, allein, denn was sie in ihrer Tasche hatte, war wahrscheinlich von einiger Bedeutung, von ernüchternder Bedeutung.
Wenn man in der Schule nachmittags eine Freistunde hatte, verbrachte man sie normalerweise damit, an irgendwelchen Aufgaben weiterzuarbeiten. Jane hatte zwei Freistunden gehabt und sie, wie auch den größten Teil der Mittagspause, an einem der Computer im Gemeinschaftsraum verbracht. Sie hatte das Gefühl, etwas beweisen zu müssen – Mom … und vielleicht auch Coops, den sie seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen hatte. Aber sie wollte sich bald mit ihm treffen.
Sie sah sich auf dem Marktplatz nach Lols Wagen um. Nicht da. Er musste auf dem Weg zu seinem Gig sein. Jane empfand eine Art Betroffenheit. Es war zwar gut, dass Lol überhaupt Gigs hatte, und noch besser, dass er den Mut hatte, wieder auf die Bühne zu gehen, aber es führte unvermeidlich dazu, dass er und Mom unterschiedliche Wege gingen. Und obwohl sie ihr Bestes gaben, war, ganz ehrlich gesagt, keiner von beiden das, was man einen entschlossenen Menschen nennen könnte.
Vor dem Gemischtwarenladen stand eine Werbetafel des
Star
, der einzigen Abendzeitung, die es nach Ledwardine schaffte:
TODESFÄLLE VON BAULEITER UND FREUNDIN GEBEN RÄTSEL AUF
Die Freundin auch?
Jane erstarrte. Sie erinnerte sich noch ziemlich deutlich an eine Zeit, als ein schockierender Todesfall sie nicht erstarren, sondern ihr einen aufgeregten Schauer den Rücken hinunterlaufen ließ. Damals waren manche Todesfälle für sie nicht so sehr mit Verlustgefühlen verbunden gewesen. Nicht einmal beim Tod ihres eigenen Vaters, weil Jane damals noch ein kleines Kind und er bei einem Autounfall umgekommen war, mit einer Frau auf dem Beifahrersitz, die nicht Mom gewesen war.
Dann waren sie aufs Land gezogen, und in Ledwardine hatte es zahlreiche Todesfälle gegeben. Der Tod war einem hier so viel näher – so nah wie der Friedhof direkt hinter der Gartenmauer, auf dem ihre eigene Mutter Beerdigungen abhielt, ehe der Sarg in ein Loch versenkt wurde, das Gomer Parry gegraben hatte. Dessen Frau, Minnie, im Krankenhaus in Hereford gestorben war. Und sein Neffe, Nev, war bei einem Brand umgekommen. Und dann war da Colette, die Freundin, mit der Jane sich zum ersten Mal betrunken hatte, mit Cider. Und, am schlimmsten, Lucy Devenish, Janes Freundin, Mentorin und Inspiration … aber nicht für lange Zeit, denn dann hatte ihr Moped auf der Hauptstraße unter dem Cole Hill gelegen.
Manchmal wünschte Jane, sie hätte Moms Glauben. Angenommen, es handelte sich wirklich um Glauben. Sie dachte daran, wie Mom in ihrem alten Bademantel auf dem Treppenabsatz gestanden und ausdruckslos in den düsteren, grauen Morgen gestarrt hatte.
Dieser Typ, dieser Bauleiter. Jane hatte ihn natürlich nicht gekannt, seine Freundin auch nicht, aber hier draußen war er jedenfalls weit mehr als Stoff für eine herzlose Schlagzeile, die sich irgendein Zyniker vor seinem Bildschirm ausgedacht hatte, in der Stadt, wo man ständig Sirenen hörte.
Hier draußen, wo es ruhig war, hatte er dazugehört, war er Teil der Struktur gewesen.
Und die Freundin. Es würde heute Abend nicht einfach sein, mit Mom auszukommen.
Jetzt fühlte es sich an, als wären die Ausdrucke in ihrer Tasche – von, zugegebenermaßen, ein paar relativ schrecklichen Webseiten – so was wie Pornos.
Von der Werbetafel entmutigt, nahm sie die Tasche von der linken Schulter, hängte sie über die rechte und ging zum Pfarrhaus hinüber.
Sie hatte die Frau schon einmal irgendwo gesehen, da war Jane ziemlich sicher. Um die fünfzig, elegant, volles Haar, das matt glänzte, wie Zinn, ernsthafte graue Augen, dunkler grauer Anzug. Priesterkragen.
Mom sagte: «Jane, das ist Siân.»
Mom sah erschöpft aus, ihre Haut war fast grau. Sie stand an einer Ecke des Esstisches, als wäre dies nicht ihre eigene Küche. Was sie natürlich auch nicht war. Sie
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