Das Geständnis der Amme
ließ sich tiefer in seinen Stuhl sinken, deutete schließlich auf ein Tischchen und die Rolle Pergament, die dort lag.
»Ich habe vorhin eine Nachricht erhalten«, sagte er.
»Von wem? Ich dachte, der König …«
»Sie ist nicht vom König. Ach Johanna, es kann Jahre dauern, bis der König uns empfängt und mir mein Lehen zurückgibt. Und wenn ich nicht darauf warten will, dann gibt es nur eine Möglichkeit, ihn milde zu stimmen – oder zumindest, Mittel und Wege zu finden, auch unabhängig von seiner Gunst ein gutes Leben zu führen und eigenes Land zu besitzen.«
Er zuckte die Schultern, schwieg; er kam Johanna fast verlegen vor.
»Wer hat dir die Nachricht geschickt?«, fragte sie wieder.
»Es wird dir nicht gefallen«, setzte er gedehnt an, »und ich will auch nicht, dass Judith davon erfährt.«
Wieder machte er eine Pause, doch dann erzählte er, was in dem Brief stand und wie er darauf zu antworten gedachte. Schon bei den ersten Worten versteifte sich Johanna, aber sie unterbrach ihn nicht, sondern hörte aufmerksam zu. Als er endlich geendigt hatte, war sie trotz der Hitze, die in ihrem Rücken lauerte, ganz blass geworden.
»Was sagst du dazu?«, fragte er.
Sie erhob sich und strich ihm mit der erdigen Hand über das Gesicht. Krümelchen fielen ihm auf die Brust.
»Ich werde dich begleiten.«
Sie konnte das Zittern in ihrer Stimme nicht verbergen, obwohl sie tapfer klingen wollte.
»Bist du sicher?«, fragte er zweifelnd.
Brügge A.D. 864
»Judith weiß es«, wiederholte Johanna.
Sie war erstaunt darüber, dass sie noch reden konnte. Stetig waren ihre Kräfte geschwunden, hatten sich stückweise dem ewigen Schlaf ergeben, doch nun spürte sie, wie sich die verbleibenden Fähigkeiten – zu reden, zu denken, zu fühlen – festkrallten.
Was ist, wenn ich zu wenig von dem Gift genommen habe?, dachte sie beunruhigt, und ihr Herz begann zu hämmern; es fühlte sich an, als ob schmerzhafte Stöße ihre Brust träfen.
Ich muss doch sterben, ich muss doch …
»Was weiß Judith?«, fragte Balduin bekümmert. »Weiß sie von deinem Kind? Weiß sie, was damals geschehen ist?«
»Sie hat es dir also nicht gesagt«, stellte Johanna fest. »Ja, sie ist eine Frau, die die Wahrheit ausspricht, aber ebenso gut Geheimnisse bewahren kann.«
»Ich habe immer gedacht, dass etwas zwischen euch geschehen sein müsse, damals in Rom. Danach hast du nie wieder schlecht über sie gesprochen, sie nicht länger bekämpft. Aber ich wusste nicht, dass es mit deinem Kind zu tun hatte.«
Anfangs, als er sie gefunden hatte, hatte er nur kurze, ängstliche Fragen gestellt. Dass jetzt Satz um Satz aus seinem Mund floss, setzte ihr nicht minder zu als das eigene Aufbäumen gegen die Ohnmacht. Dachte er etwa, sie hätte noch Zeit, genug Zeit? Sie wollte sie nicht haben … Und er, er sollte endlich zu Judith gehen, sie brauchte ihn, und wer wusste … ja, wer wusste, ob Gott auf ihren Handel einging? Dass sie immer noch atmete, immernoch ihr Herz pochte – war das womöglich ein Zeichen dafür, dass er ihr Opfer nicht annahm?
Sie stöhnte auf
»Johanna!«, schrie Balduin entsetzt auf »Ich … ich wollte dir nicht wehtun! Ich wollte doch keine bösen Erinnerungen heraufbeschwören! Ich wollte doch nur wissen, ob … Aber … aber wir müssen nicht über dein Kind reden, es genügt, wenn Judith weiß, was geschehen ist.«
Seine Sorge nahm ihr ein wenig von der ihren. Dass er die Ursache ihres gequälten Stöhnens nicht richtig deutete, rang ihr ein Lächeln ab. Er hatte nie in ihre Seele geblickt, nie so tief wie Judith … oder Madalgis. Er hatte das Schwarze, das Zerstörte vielleicht gewittert und gefürchtet, aber er hatte sich, im Gegensatz zu Judith, nie darin gespiegelt.
Vielleicht war das gut so. Was sonst hatte ihr lange Zeit Kraft gegeben als die Tatsache, dass er einst – in kindlichem Unverständnis – vorausgesetzt hatte, sie hätte welche?
»Geh zu Judith«, forderte sie erneut. »Nun geh endlich!«
»Wenn sie weiß, was du getan hast … es weiß und dich trotzdem nicht verachtet: Warum denkst du dann, der Herr im Himmel täte es? Warum glaubst du, sterben zu müssen?«
»Ach Balduin! Geh endlich!«
Sie wurde ratlos, ihr fiel nichts mehr ein, wie sie ihn endlich von sich lösen konnte.
»Es ist auch so«, setzte sie schließlich hinzu, »Judith weiß vieles … und gewiss ahnt sie darüber hinaus manches … aber eben nicht alles … nicht alles. Es gibt etwas, was ich vor ihr verborgen habe.
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