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Das Geständnis der Amme

Das Geständnis der Amme

Titel: Das Geständnis der Amme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Krohn
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diedichten Wälder. Nichts legte dem Blick Grenzen auf; geschmeidig war das dünne, bläuliche Band, das in der Ferne den Übergang vom Land zum Himmel markierte. Die Melodie des Himmels war schlicht – frei von Spott oder furchterregendem Grollen. Ei-gentlich bestand sie nur aus zwei Lauten: dem sehnsuchtsvollen Gekreisch der Möwen und dem Wind, der an Stärke zunahm und atemlos über die weite Fläche hetzte.
    Selbst als sie in der Ferne das Meer schimmern sahen, eigentlich bedrohlich, weil hinter seinen Rändern die teuflische Brut heranwuchs, fiel es ihr immer noch schwer zu verstehen, dass sie auf feindlichem Gebiet waren. Ein Niemandsland schien es vielmehr zu sein, bar der Menschen – und bar all jenem, was Johanna mit sich geschleppt hatte: ihre Erinnerungen, ihre Qualen, ihre Entschlossenheit, Balduin diesen Weg nicht allein gehen zu lassen. All das, es schien vom Wind davongetragen und stieß auf keine Wände, die ein Echo auf sie zurückwerfen konnten.
    Als sie den Strand erreichten, erschlafften ihre Glieder wie ihr Geist. Die Sonne badete bereits im flachen Wasser, silbrig sangen Wellen das Abendlob der Schöpfung. Wasser und Land standen sich nicht kämpferisch gegenüber, sondern vereinten sich zu einem fein gesponnenen, faltenlosen Kleid.
    Sie zuckte zusammen, als Balduin sein Pferd dicht an ihres heranlenkte.
    »Dort hinten«, murmelte er und deutete mit der Hand in eine Richtung. Sie erblickte eine Rauchsäule, die von einem kreisrunden Dorf gen Himmel stieg. Johanna schrak zusammen. Es schien unglaublich, dass es hier überhaupt etwas von Menschenhand Geschaffenes gab.
    »Bist du dir sicher?«, fragte sie leise.
    »Ich muss es tun.«
     
    Schweigen empfing sie. Rechts und links des Weges, auf dem sie ins Dorf ritten, hatten sich Menschen zu einem Spalier gebildet, so eng, dass sie nur einzeln hindurchreiten konnten. Sämtliche Blicke hefteten sich auf sie – die der Erwachsenen ebenso wie dieder Kinder, die dicht gedrängt an ihre Mütter standen – doch sie alle waren ausdruckslos.
    Umgeben von Holzpalisaden standen Wohnhäuser und Werkstätten, Lagerhäuser und Geräteschuppen, Ställe und Scheunen eng beisammen. Viele Handwerker hatten ihre Werkstätten im Freien, und auch wenn sie im Augenblick nicht dort arbeiteten, so ließ sich das Werk ihrer Hände doch erahnen: Es mussten Töpfer und Weber sein, Goldschmiede und Ledergerber, Zimmerleute und Schmiede. An einem der Pfähle hing ein geschlachtetes Tier.
    Balduin blickte sich neugierig um, prägte sich die Einzelheiten ein. Manches rührte an Erinnerungen, glich jenem kleinen Dorf, in dem ihn Eyvindr einst gepflegt hatte. Manches jedoch war anders. Die Häuser schienen um vieles stabiler. Ihre Dächer bestanden aus Torfsoden oder Reetmaterial, die Wände aus Flechtwerk von Hasel-, Ulmen- oder Eschenzweigen und aus Holzpfosten, die mit Lehm beschichtet waren, um sie wasserfest zu machen. Die Kleidung der Menschen war ihm vertraut – die Art, wie sie ihre Fibeln auf der Brust schlossen oder wie sie sich ihre Felle vom Marder, Biber und Eichhörnchen über die Schultern warfen.
    In der Mitte des Dorfes standen die Häuser immer dichter, manche von ihnen waren aus Stein gebaut.
    In einem von diesen Häusern musste sich Rorik aufhalten. Der Mann, der in seiner Muttersprache Hrörek genannt wurde, stammte aus dem Haus der Haithabu und war der Bruder des dänischen Königs Harald. Seit dem Jahr 850 war er Herrscher über weite Teile Frieslands. Einst war er damit von König Lothar I. belehnt worden, als Schutzwall gegen noch unberechenbarere Krieger aus dem Norden und weil Rorik sich bereit erklärt hatte, sich wie sein Bruder taufen zu lassen.
    Balduin war überrascht, als sich schließlich als Erster ein Mönch aus der Menge löste und ihm entgegentrat. Er wusste wenig über das Zeremoniell, das hier im Norden herrschte, doch hatte er erwartet, dass einer wie er von Männern gleichen Ranges empfangenwürde. Die ersten Worte des Mönchs erklärten freilich dessen Rolle.
    »Rorik ist Eurer Sprache nicht kundig«, setzte er grußlos an. »Ich werde für ihn und für Euch sprechen.« Er machte eine kurze Pause, um etwas lauter hinzuzusetzen: »Ihr seid Graf Balduin, den man den Eisenarmigen nennt?«
    Es war eher eine Feststellung als eine Frage. Erstmals regte sich etwas in der Menge – ein Raunen wurde weitergetragen, entweder von Respekt oder von Grauen gezeugt. Balduin vermochte nicht zu sagen, ob er jemals gegen Roriks Stamm gekämpft hatte,

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