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Das Geständnis der Amme

Das Geständnis der Amme

Titel: Das Geständnis der Amme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Krohn
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verstärkte nur ihr Misstrauen. Nun, sie würde hellwach und aufmerksam bleiben, würde versuchen, nirgendwo zu lange zu verweilen, nirgendwo zu lange den Blick verharren zu lassen.
    So strafte sie den eifrigen Schmied alsbald ebenso mit Missachtung wie die Frauen, die um ein Feuer saßen und dort viele kleine Leinenflicken aneinandernähten – offenbar zum Zwecke, daraus ein grün kariertes Segel zu machen. Nicht minder stur bemühte sie sich auch, jener Frau keine Beachtung zu schenken, die damit beschäftigt war, Kämme aus Knochen und Geweih zu polieren, oder jenen Holzarbeiter, der auf einer Drehbank Näpfe und Teller fertigte. Stolz ging sie an ihnen vorbei, den etwa einen Meter breiten Fußsteg nutzend, der die einzelnen Häuser verband und der an manchen Stellen mit Steinen und an anderen mit Holzplanken ausgelegt war. Da ihr nicht nur daran gelegen war, sich in Bewegung zu halten, sondern sich obendrein nicht zu weit von Roriks Haus zu entfernen, musste sie die Runde, die sie gedreht hatte, bald wiederholen. Nachdem sie diesen Weg erst einmal gewählt hatte, blieb sie ihm treu und ging immer wieder dieselben Schritte: am Schmied vorbei, an den Frauen, die das Segel fertigten, an jener, die die Kämme polierte, am Holzarbeiter.
    Nach dem dritten Mal zog sie jene neugierigen und zugleich unverständlichen Blicke auf sich, die bislang ausgeblieben waren und denen sie eigentlich hatte entgehen wollen. Nach dem sechsten Mal ließ fast jeder seine Arbeit ruhen, um sie befremdet anzugaffen, wie sie da ging und ging, als folgte sie einem geheimen Ritual.
    Zuerst setzten ihr die Blicke zu, dann straffte sie umso trotziger die Schultern. Schaut ihr nur!, schimpfte sie im Stillen. Glaubt nicht, ich wüsste nicht, wer ihr seid! Mögt ihr euch hinter harmlosen Masken verbergen, ihr seid doch allesamt wilde Tiere, die in unser Land einfallen, uns ausrauben, uns ermorden, uns …
    Ihre Gedanken gerieten ins Stocken. Auch wenn sie die Blicke mied und sich nichts wirklich anschauen wollte, stellte sie doch fest, dass es vor allem Frauen waren, denen sie hier begegnete, mit schlichten Wolltüchern bekleidet, die an den Schultern von einer glanzlosen Schildpattbrosche festgehalten wurden. Die wenigen Männer sahen allesamt nicht nach Kriegern aus – jene waren schließlich um Rorik versammelt –, sondern nach Handwerkern, Bauern oder Fischern.
    Trotzdem!, dachte sie grimmig. Jener Schmied, der da den kostbaren Helm fertigte – war er es nicht, der auch die grausamen zweischneidigen Schwerter herstellte, ihren Knauf, ihren Griff?
    Wieder hielt Johanna inne. In den Blicken, die auf ihr ruhten, stand neben Verwunderung auch etwas, was sie am wenigsten erwartet hatte: Achtung. Noch meinte sie, sich zu irren. Doch neben der ehrfurchtsvollen Stille, die sich ausgebreitet hatte, gewahrte sie, dass die Menschen höflich ihre Blicke vor ihr senkten. Kein spöttisches Grinsen zeigte sich ihr, keine Furcht und kein Hass. Johanna zögerte, weitere Schritte zu machen. Vielleicht verhielt man sich höflich, weil sie ein Gast war, überlegte sie, um sich alsbald in Erinnerung zu rufen, dass die Blicke viel abschätzender gewesen waren, als Balduin in das Dorf geritten kam. Es musste etwas anderes sein, was diesen Respekt zeugte, es musste …
    Da ging ihr auf, dass kaum alte Menschen zu sehen waren. Kaum einer hatte schütteres oder weißes Haar, bei den meisten saßen die Zähne fest im Mund, die Gesichter waren glatt. Die Alten hielten sich wohl im Innern der Häuser auf und schliefen dort bereits. Wach blieb nur, wer zu viel Kraft, zu viel Lebenshunger hatte, um sich bei Dunkelheit zurückzuziehen. Das wiederum bedeutete, dass sie um diese Tageszeit die einzige alte Frau hier war und darum ganz allein mit dieser stillen Hochachtung bedacht wurde, die die hiesigen Sitten im Umgang mit der vorausgehenden Generation offenbar verlangten.
    Sie verehren die Alten genau wie bei uns, überlegte Johanna. Und noch ein anderer Gedanke kam ihr: Sie sind so viel jünger als ich.
    Allein durch den späteren Zeitpunkt ihrer Geburt lebten diese Menschen hier in einer völlig anderen Welt als jene, die ihr einst Heimat und Familie geraubt hatten.
    Dennoch, dachte sie entschlossen und setzte ihren Weg fort, sie sind
ein
Volk, ganz gleich, woher genau sie kommen, ob von den nördlichen Küsten oder vom Meer. Ganz gleich auch, von welchem König oder Fürsten sie regiert werden … Ein Volk, das unser Land heimgesucht hat, obwohl es dort nichts zu suchen

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