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Das Geständnis der Amme

Das Geständnis der Amme

Titel: Das Geständnis der Amme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Krohn
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verbissen wie jene, nicht so kalt.
    Dann kam der Tag, als der erste Lehrer ihn besuchte, ein Mönch, vierschrötig und rotgesichtig. Er sollte dem kleinen Ludwig beibringen, wer er war, welch ehrwürdiger Familie er entstammte, und das bedeutete, dass er all seine Vorfahren aufzählte: Ludwigs Vater Karl, dem man den Beinamen »der Kahle« gegeben hatte, Ludwigs Großvater, der ein überaus frommer Mann gewesen war, schließlich dessen Vater, Karl der Große, wiederum von Pippin abstammend, dem Sohn des Karl Martell.
    »Wiederhole!«, befahl er Ludwig, aber als er den Mund aufmachte, da kamen keine Wörter heraus, keine Silben, nur einzelne Buchstaben, »K-K-K-K-K …«
    »Hat ihm irgendjemand Wein gegeben?«, rief der Vater entsetzt, als er – vom aufgeregten Mönch herbeigerufen – den Knaben betrachtete, der von seinem Samen gezeugt worden, der ihm aber bislang zu klein erschienen war, um mehr an ihn zu verschwenden als dann und wann einen gleichgültigen Blick. Jetzt wurde sein Blick nahezu panisch.
    »Was hat er getrunken, was ihm die Sinne derart verwirrt?«
    Doch er hatte nichts getrunken, nichts damals, nichts heute. Erwar auch nicht schwachsinnig, wie der König zunächst befürchtet hatte. »Herr, vergib mir!«, hatte Karl gerufen und war auf seine Knie gesunken.
    Ludwig konnte sich bis heute an seine immense Erleichterung ob dieser Worte erinnern. Wenn der Vater um Vergebung flehte –so viel verstand er, er verstand ja alles, nur reden konnte er nicht –, so gab er sich selbst an Ludwigs Stottern die Schuld und wies diese nicht ihm zu. Schließlich war bekannt, dass Menschen, die schwachsinnig waren, die Sünden ihrer Eltern zu büßen hatten, desgleichen wie solche, die blind oder taub oder verkrüppelt geboren wurden.
    In den Wochen, die folgten, stellte sich freilich heraus, dass Ludwig nicht schwachsinnig war. Der Vater hatte also keine schlimmen Sünden auf seine Seele geladen, für die er bestraft werden musste, sondern der Knabe widersetzte sich einfach nur bockig und widerborstig jener Fähigkeit, die dem Menschen als Zeichen seiner Ebenbildlichkeit Gottes gegeben war. »Tiere sprechen nicht«, erklärte der vierschrötige, rotgesichtige Mönch. »Nur Menschen können sprechen.«
    Nun, für Ludwig blieb es eine Qual, desgleichen wie die Blicke, die fortan auf ihm ruhten, ängstlich, abschätzend, verächtlich, spöttisch. Nur der seiner Schwester Judith war erträglich. Er war ernst und neugierig wie immer; er hatte sich nicht verändert, nachdem sich herausgestellt hatte, dass er ein Stammler war.
    Ludwig seufzte. Das Gemach, in dem er untergebracht war, gehörte gewiss zu den größten, doch gerade deswegen deuchte es ihn ungemütlich und trotz des Feuers, das im Kamin loderte, kalt. Er öffnete die Brosche auf der Brust, legte seinen Umhang ab, setzte sich schließlich auf eine der hölzernen Bänke, auf denen ein fein gewebter Teppich lag. Schließlich zog er die weißen Handschuhe aus, die er – gemäß seiner Würde – bei förmlichen Anlässen trug. Sein Blick fiel auf seinen Gürtel, an dem einige funkelnde Döschen hingen. Sie waren mit einer wohlriechenden Paste gefüllt und mit Geschenken seiner Getreuen, die dadurch ihre Freundschaft zu ihm bekundeten. Sicher hatte auch Balduinihm das eine oder andere geschenkt, um die Sitten des Landes zu erfüllen.
    Ludwig löste seinen Gürtel und ließ ihn mitsamt der Döschen achtlos zu Boden fallen. Wenn er mit Menschen zusammen war, sehnte er sich danach, allein zu sein. Doch wenn er allein war, fühlte er sich leer. Balduins Trachten, in solchen Stunden Wein zu trinken, sich mit Frauen zu amüsieren, war ihm immer fremd gewesen. Doch er verstand, wodurch jenes Trachten gezeugt wurde und dass Balduin vielleicht zu beneiden war, weil er ein Mittel gefunden hatte, die Stille zu füllen – er selbst, Ludwig, jedoch nicht.
    Seufzend bückte er sich, um die Schnüre zu lösen, die seine Stiefel verschlossen. Doch als er das erste Band aufknotete, gewahrte er, dass er nicht allein war. Hinter ihm ertönte ein Schluchzen.
     
    Ludwig fuhr zusammen, sprang auf. Der Krieg hatte ihn schreckhaft gemacht, auch wenn die Angst vor dem Tod ihm ebenso fremd geblieben war wie Balduin. Dass es nur ein Mädchen war, das dort hinten hockte, gleich neben dem Bett, erleichterte ihn nicht sonderlich. Mochte es auch niemand auf sein Leben abgesehen haben – die Furcht seines königlichen Vaters vor Attentaten war allgegenwärtig –, erdreistete sich doch

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