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Das Geständnis der Amme

Das Geständnis der Amme

Titel: Das Geständnis der Amme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Krohn
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hässlich.«
    »Doch«, sagte sie, »doch, das bin ich …«
    Dann tat sie, was ihn zutiefst erschreckte. Sie griff nach ihrer Haube, zog sie mit einem Ruck vom Kopf, und was sich dahinter verbarg, war kein glänzendes Haar, das alsbald über die Schultern floss, sondern eine Glatze wie bei einem uralten Menschen, nur an einigen wenigen Stellen von dünnen Strähnen bedeckt, armseliger noch als der weiche Flaum kleiner Eiderenten, mit dem Seidenkissen gestopft wurden.
    »G-g-g-gütiger Hi-Hi-Hi-Himmel!«, stieß Ludwig aus. »Bist du krank?«
    Er wich von ihr zurück, und als sie es gewahrte, da stahl sich ein Glanz in ihre Augen, der ihn fast boshaft deuchte. Nicht länger Verzweiflung stand ihr im Gesicht geschrieben, sondern eine absonderliche Gier. Erst wusste er nicht, worauf diese sich richtete. Dann rutschte das Mädchen plötzlich auf den Knien zu ihm, packte ihn an den Oberschenkeln und presste sein Gesicht an ihn, nicht weit von seinem Geschlecht. Neuer Ekel überfiel ihn – und zugleich eine verräterische Lust. Noch nie hatte ihn eine Frau mit derartiger Inbrunst gepackt, mit einem Verlangen, als wollte sie sich nicht begnügen, ihn zu halten, sondern ihn zwischen ihren Armen zerquetschen. Riesig schienen ihm diese Arme plötzlich, sie drohten von allen Seiten zu kommen. Er verlor seinen festen Stand, schwankte.
    »Nicht!«, schrie er panisch. »N-n-n-nicht!«
    Augenblicklich war es vorbei. Madalgis ließ ihn los, sank zurück, hob ihr Gesicht zu ihm, und es stand keine Gier mehr darin, sondern nur mehr Verbitterung.
    Sie zuckte die Schultern und sprach weiter, als wäre nichts geschehen. »Ich … ich bin verloren. Was ich auch tue, ich werde nicht mehr heil, ich bekomme meine Haare nicht zurück. Und jetzt … jetzt muss ich ihn obendrein wiedersehen, obwohl er selbst mich nicht wahrnimmt. Das ertrage ich nicht. Das ertrage ich einfach nicht.«
    Ludwig war erleichtert, dass kein neuerlicher übergriff erfolgte, der ihn ebenso beschämt wie erregt hatte. Er atmete nun ruhiger – wie sie. »Ich k-k-k-könnte dich nach Senlis bringen«, setzte er schließlich an.
    Madalgis hob fragend ihren Blick. Ihre Augen waren gerötet, aber nicht mehr tränennass. »Nach Senlis?«
    »M-m-m-m-meine Schwester lebt dort, meine Sch-Sch-Schwes-ter Judith.«
    Gedankenverloren blickte er auf seine Hände. Wenn er an Judith dachte, so sah er nicht die erwachsene Frau vor sich, der er zuletzt begegnet war, sondern das ernste Kind von einst.
    »S-s-sie ist älter als ich, ein k-k-k-knappes Jahr. Sie war das erste Kind, das unseren Eltern geschenkt wurde. S-s-s-sie war verheiratet, m-m-m-mit dem K-K-König von Wessex, zuerst mit dem Va-Va-Vater, dann mit dem Sohn. Als Wi-Wi-Witwe ist sie in die
Gallia
zurückgekehrt, und sie lebt jetzt mit ihrem Brautschatz in Senlis. S-s-s-sie k-k-k-kann nicht frei über ihr Leben bestimmen. Sie f-f-f-fühlt sich als Gefangene meines Vaters.«
    So wie ich ein Gefangener bin, setzte er in Gedanken hinzu. Ein Gefangener meines Körpers, meines Stotterns, meines Ranges.
    Madalgis wischte sich über die feuchten Wangen, schniefte ein letztes Mal, dann nickte sie.
    »Helft mir!«, sagte sie, nicht flehend, eher feststellend. »Ja, bitte helft mir und bringt mich von hier fort!«

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XII. Kapitel
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    Der Winter des Jahres 861 hatte früh begonnen und war eisig kalt. Am Fest des heiligen Stephan war wie immer der Hafer geweiht worden, und man hatte die Getreidebündel in der Nacht nach draußen gestellt, auf dass der herabfallende Tau ihnen besondere Kraft verleihe – doch am nächsten Morgen waren sie so gefroren, dass man sie nur mehr rollen, nicht mehr heben konnte.
    Seitdem hatte es nicht zu schneien aufgehört. Die Natur verbarg sich unter einem weißen Kleid, der bewaldete Berg hatte sämtliche seiner Haare verloren, und selbst die schweren Eichen bogen sich unter den Schneelasten wie ein Schilfrohr. Der farblose Himmel schien eingenickt zu sein, denn nichts regte sich in seiner Weite, kein Wölkchen, kein Sonnenstrahl, und die Schwalben, die ihn des Sommers über durchpflügten, waren längst gen Süden geflogen.
    So schwerfällig und erstarrt wie die Jahreszeit gestaltete sich auch Balduins Gespräch mit Ludwig. Während sie nebeneinander herritten, stockte es regelmäßig nach wenigen Sätzen, und Balduin war sich nicht sicher, ob der Sohn des Königs einfach nur lustlos und müde oder verärgert über ihn war. Seit dem großen Fest in Laon vor einigen Monaten war Letzteres nicht

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