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Das Geständnis der Amme

Das Geständnis der Amme

Titel: Das Geständnis der Amme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Krohn
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erwachsenen Männer, sondern Knaben. Der Hunger und die Kälte, die sie offenbar seit langen Wochen erleiden mussten, hatten ihre Gesichter ausgehöhlt. Keine Kampfeslust stand darin eingeschrieben, keine Entschlossenheit, ein fremdes Land zu erobern – einzig dieser nackte Wunsch zu überleben, und sei es nur für einen Tag, um dann im gnädigen Schneebett selig der anderen Seite des Lebens entgegenzudämmern.
    Einer dieser Knaben richtete einen weiteren Pfeil auf Balduin, doch der hatte die Schusswaffe bereits in kleine Stücke gehackt, ehe sie nur ihr Ziel anvisieren konnte. Der Junge ließ die Reste der Armbrust sinken, nicht sonderlich bedauernd, nur traurig.
    Sein Blick traf den Balduins, und in dem Moment, da sie schweigend voreinander verharrten, der ausgemergelte Normanne und der übermächtige Krieger, da begann an Balduin nicht nur die Erinnerung zu nagen, die schrecklichste, die unerträglichste, sondern er erfasste auch, was hier geschah: Nicht die Eroberer aus dem Norden hatten angegriffen, vielmehr waren diese von ängstlichen Bauern aufgestöbert worden, die täglich einen überfall der fremden Ungeheuer erwarteten. Nun, von dieser Truppe stand nichts zu befürchten, sie war wohl nichts weiter als der klägliche Rest einer viel gefährlicheren Schar, die entweder von fränkischen Truppen oder dem gnadenlosen Winter besiegt worden war – doch in ihrer Panik war den Bauern Gnade fremd. Balduin konnte sie verstehen, doch er selbst blieb wie erstarrt.
    Ich kann dich nicht töten, dachte er, ich kann nicht …
    Seine Hand schien wie gelähmt, und er merkte nicht, wie sich ihm eine bedrohliche Gestalt näherte. Der größte und kräftigste der Normannen, ausgezehrt zwar wie der Rest, doch zäher, hob eben seine runde Hacke, um sich dem Zweikampf zu stellen. Bei anderen Gelegenheiten hätte Balduin diesen Todesmut bewundert, doch diesmal bemerkte er ihn gar nicht, sondern blieb im Anblick des Jungen versunken – und in der Erinnerung an … Eyvindr.
    Als er aus den Augenwinkeln die Hacke aufblitzen sah, war es zu spät. Er wusste, dass sie ihn treffen würde, noch ehe er die Möglichkeit hatte, herumzufahren und dem Mann sein Schwert in den Leib zu rammen.
    Er fühlte keine Angst, dazu blieb keine Zeit, nur Bedauern, dass der Tod unangekündigt kam – und auch Erleichterung.
    Wenigstens habe ich den Jungen nicht getötet.
    Er wappnete sich gegen die Wucht des Schlages – und sank halb ohnmächtig auf die Knie, als dieser ausblieb und ihn nichts anderes streifte als ein kalter Luftzug. Bilder zuckten vor ihm auf, aber sein Verstand war zu leer, um sie zu deuten, zu ergründen.
    Da bemerkte er seinen Atem, heftig und kurz. Seine Lungen füllten sich mit mehr Luft, als er eigentlich brauchte, die Kälte schnitt in seine Brust und brachte die Wachheit zurück.
    Der Angreifer lag gefällt neben ihm; eine rote Blutspur bahnte sich ihren Weg in den Schnee, nicht mehr als ein dünnes Bächlein. Sollte ein ausgemerztes Menschenleben nicht tiefere, dunklere Spuren hinterlassen als diese rote Träne?
    Dann schrie er auf. Gleichfalls gefällt, die starren, gebrochenen Augen gen Himmel gerichtet und dessen mattes Grau spiegelnd, lag auch der Knabe vor ihm.
    »O nein!«, schrie Balduin. »O nein!«
    Ludwig trat an seine Seite, packte ihn an der Schulter, viel fester, viel bestimmter, als sich seine Berührung ansonsten anfühlte. Er zog Balduin hoch. »Du solltest mir danken, mein Freund«, sprach der Prinz; seine Stimme zitterte vor Anstrengung, aber er stotterte nicht. »Ich habe dir das Leben gerettet …«
    Die Luft schien noch diesiger als zuvor. Die Ausdünstungen von schwitzenden Menschenleibern, der Blutgeruch, der heiße Atem der Pferde – das alles schien sich zu einem dichten Nebel zu vereinen, der zwischen Balduin und die Welt trat.
    Erst später erkannte er, dass die Männer des Prinzen nicht nur der Normannen Herr geworden waren, sondern obendrein das armselige Grüppchen an Bauern zusammengedrängt hatten. Nun begannen sie, jene an den Händen zu fesseln. Die meisten der Männer ließen es mit erloschenem Blick über sich ergehen, nur einer oder zwei stießen ein lautes Wehgeheul aus.
    Verwirrt drehte sich Balduin um; erst jetzt gewahrte er, dass Ludwig immer noch dicht hinter ihm stand.
    »Warum werden die Männer gebunden? Sie haben doch …«
    »Sie haben Krieg gegen die Normannen geführt. Und das dürfen Männer ihres Standes nicht. Es ist ihnen bei Todesstrafe verboten.« Immer noch klangen

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