Das Geständnis der Amme
flüsterte sie. »Lass mich meine Schuld sühnen, indem ich sterbe.«
Vierter Teil
Die Flucht
A.D. 862
»König Karl erhielt die Nachricht, dass seine Tochter Judith, die
Witwe des Königs der Angeln, Edelbold,
sich dem Grafen Balduin hingegeben und ihm
in einer Verkleidung gefolgt sei.«
Aus den Annalen von Saint-Bertin
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XIII. Kapitel
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»Das ist alles schön und gut, Bruder Godhard«, sprach Königin Judith. »Und dass Ihr mir stets neue Schriften unterbreitet, die sich mit meinem Seelenheil befassen, ist ohne Zweifel löblich. Was aber genau habt Ihr nicht verstanden, als ich Euch beim letzten Male ausdrücklich sagte, ich wünschte, keine
Speculae
mehr durchzukauen, sondern an deren Stelle geographische Schriften?«
Weder hob sich ihre Stimme, noch klang jener Spott durch, den ihre Wortwahl deutlich bekundete, aber der Mönch wurde trotzdem puterrot im Gesicht – es war nicht gewiss, ob vor Beschämung oder Verärgerung.
»Meine Königin …«, setzte er mit bebender Stimme an.
»Euer Vorgänger, werter Godhard, Euer Bruder in Christi und bislang dazu bestimmt, mein armes Haupt mit der rechten Zutat zu füttern, war überzeugt, dass dessen Fassungsvermögen sehr klein wäre, schließlich bin ich eine Frau – und Gleiches denkt Ihr doch eben auch, voller Empörung wie mir scheint, die ungesunde Gesichtsfarbe verrät Euch. Ihr solltet Euch bei Eurem Leibesumfang vorsehen, das Herz in solche Aufregung zu versetzen. Nun, Euer Vorgänger also – ich kann mich an jede Kleinigkeit seines Antlitzes erinnern, nur leider nicht an seinen Namen – hat schließlich doch verstanden, was ich von ihm wollte. Und er hat sie mir nicht verweigert: Schriften von Plinius dem älteren, Marianus Capella oder Isidor von Sevilla.«
»Meine Königin«, setzte Bruder Godhard wieder an. »Wer sich mit dergleichen beschäftigt, sollte einzig von dem Trachten getrieben werden, Gottes Wirken besser zu verstehen, nicht aber von Neugierde.«
»Ach, wenn es darum geht!«, rief Judith leichtfertig aus. »Nun, ich würde gerne verstehen, warum Gott gerade drei Erdteile geschaffen hat – in Anspielung auf die Heilige Dreifaltigkeit etwa? Und warum ist Asien am größten? Weil sich hier das Leiden Christi zugetragen hat? Mein Urgroßvater verfügte übrigens über einen Tisch, auf dem die ganze Weltkarte abgebildet war. Wie schade, dass ich diesen Tisch niemals betrachten konnte. Wobei, wenn ich die Wahl hätte, so würde ich mir noch lieber die Sternenuhr ansehen, die Pacificus von Verona vor einigen Jahren gefertigt hat. Es heißt, dass man mit deren Hilfe während der Nacht die Stunden bestimmen kann.«
»Meine Königin, Bischof Erpuinus hat gesagt …«
Reglos war Judith bis dahin gesessen; auch jetzt blieben ihre Hände seelenruhig vor ihr auf dem Tisch liegen. Nur die eine Augenbraue hob sich unmerklich. »Was hat er zu Euch gesagt, Bruder Godhard?«, fragte sie gelassen. »Und ist der Bischof in diesem Augenblick etwa hier? Um hinter Euch zu stehen und Euch ins Ohr zu hauchen: ›Ja, ja, widersetz dich ihr ruhig, achte nicht auf ihre Wünsche; sie ist ja nur die Tochter des Königs … und zufällig auch selbst eine Königin. Wer ist sie schon, gemessen an einem frommen Mönchlein.‹ Nun, ist der Bischof hier, um Euch zu bestärken und mich zurechtzuweisen?«
Das Rot wich wieder von Godhards Wangen. Beleidigt biss er sich auf die Lippen, aber er gab zumindest kein Widerwort mehr. Judiths Augenbraue senkte sich.
»Nun gut«, sprach sie ohne den Hauch eines triumphierenden Lächelns, aber mit einer Stimme, die irgendwie satter klang als zuvor. »Keine
Speculae
also, die uns Laien ähnlich belehren sollen wie euch Mönche die Ordensregel, sondern lieber Schriften über die Beschaffenheit der Welt. Ich las erst neulich bei einem Autor – wisst Ihr, wen ich meine? –, dass die Erde vom Ozean umgeben und in fünf Zonen unterteilt sei: eine heiße Zone, zwei gemäßigte, zwei kalte. Nur in wenigen von ihnen könnte der Mensch leben. Ich frage mich, zu welchem Zwecke wohl Gott der Allmächtige die restlichen erschaffen hat?«
Nichts regte sich in ihrem Gesicht, nur die Lippen, als sie sprach, und ausdruckslos blieb sie, als Bruder Godhard ihre Frage schließlich mürrisch beantwortete, indem er zu einem weit ausgeholten Diskurs über die Schöpfungstheologie ansetzte.
Judiths Damen lauschten ihm ebenso gelangweilt wie zuvor den Worten der Königin. Sie waren an ihre scharfe Zunge genauso gewöhnt wie an ihre regungslose
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