Das Geständnis der Amme
Schwert auf ihn richtete. Gefasst hatte der Junge gewirkt, gefasst und stolz; er hatte nicht um sein Leben gefleht.
Was tue ich hier nur?, fragte Balduin und schlug sich beide Hände vor sein Gesicht.
Ludwig sah ihn nicht länger an.
»Ehe ich’s vergesse«, rief er, als er bereits wieder auf dem Pferd saß. »Du solltest meine Fa-Fa-Familie besser kennenlernen, so nahe wie du mir stehst. Ich w-w-w-weiß, dass du meinem Vater bereits begegnet bist, als er dir dein L-L-Lehen übertrug. Aber dusolltest auch meine Schwester Judith einmal sehen, meine schöne, stolze Schwester. Am b-b-b-besten wir treffen uns Anfang nächsten Jahres in Senlis wieder, jener Stadt, wo sie nun lebt. Gehab dich wohl, Balduin! Nie hatte ich einen treueren W-W-W-W-Waf-fengefahrten als dich!«
Sämtlicher Groll war aus seiner Stimme geschwunden. Fast glücklich klang er, befreit. Als Balduin ihm hingegen nachblickte und sich hernach den entweder erstarrten oder heulenden Bauern zuwandte, dachte er, dass er die erstickende Umarmung von Schwermut, Bitterkeit und Ohnmacht nie wieder würde abschütteln können.
Brügge, A.D. 864
Johanna sah Balduin nur verschwommen, aber sie fühlte, wie er sich zu ihr setzte, ihre welke Hand nahm.
Mit einem Mal war sie erleichtert, nicht einsam sterben zu müssen.
Vorhin noch, als sie damit gerechnet hatte, ohne Abschied von dieser Welt zu gehen, sich still und heimlich fortzuschleichen, war es ihr als gut und richtig erschienen; keine angstvolle Regung hatte sie übermannt, die nach einem Beistand lechzte.
Doch nun, in seiner Nähe, fühlte sich alles wärmer, wohliger … runder an.
Zumindest solange er schwieg und sich damit abzufinden schien, dass sie auf seine Frage, warum sie sich selbst das Leben nahm, nicht antwortete.
Erst als sie sich der Erschöpfung hingeben wollte, die ihren nun hitzig glühenden Kopf immer tiefer zerrte, da tönten wieder Worte aus seinem Mund, und sie verhießen nicht ihre Hingabe an die viel größere Macht des Todes, sondern Auflehnung und Zorn.
»Warum … warum, Johanna ? Ich brauche dich doch! Sie braucht dich! Du kannst uns doch unmöglich in diesem Augenblick im Stich lassen! Hörst du … hörst du nicht, wie sie sich quält?«
Die Wahrheit war, sie hörte es tatsächlich nicht. Ihre Ohren waren längst taub geworden für das Geschrei. Doch sie scheute sich, es ihm zu sagen. Womöglich würde er denken, sie sei ohne Mitleid, anstatt ihr zuzugestehen, dass sie sich schon zu weit über das Diesseitige erhoben hatte, um von ihm noch berührt oder gar gequält zu werden.
Sie hatte sich früher nie vorstellen können, dass Gott der Allmächtige sich sämtlicher seiner Geschöpfe annahm, sie liebend und zugleich streng beobachtete. Nun ahnte sie, wie sich seine Gleichgültigkeit anfühlte. Gewiss wandte er sich von der Welt nicht aus Bösartigkeit ab, aber jene Welt mit all ihren Menschenkindern konnte sein Herz nicht brechen, konnte keine Tränen zeugen, nur dieses Mitleid, dieses sanfte Weh, dass sich andere mit etwas plagen mussten, was einen selbst so nichtig deuchte.
»Ach Johanna, hör mir zu, gib nicht auf!«, bedrängte sie da wieder Balduins Stimme. »Wenn du … wenn du den Trunk heraufwürgst, ist es vielleicht nicht zu spät. Du musst leben, Johanna, du musst …«
»Meine Zeit ist abgelaufen, verstehst du nicht?«, gab sie zurück. Das Reden strengte sie an, aber sie wollte sich seinen Fragen nicht verweigern. »Der Mensch sollte wissen, wann er gehen muss.«
»Aber der Mensch darf nicht selbst darüber entscheiden, sondern einzig der Allmächtige! Du darfst dich nicht gegen seinen Willen erheben!«
»Das tue ich nicht«, sagte sie matt. »In Wahrheit beuge ich mich seinem Willen doch. Ich weiß, was der Allmächtige von mir denkt. Er denkt, dass ich es nicht verdient habe, noch einen Tag länger auf seiner Welt zu wandeln.«
»Johanna, du hast doch … «
Sie hob ihre Hand, das Bild vor ihren Augen klärte sich. Sie konnte ihre Finger betrachten, jeden einzelnen. Sie kamen ihr dünn vor, als hätten die Würmer ihr schon das Fleisch davon abgefressen und es blieben nur die Knochen zurück.
»Das Urteil, das ich über mich gefällt habe, ist dasselbe Urteil, wie es ein jeder über mich sprechen würde – wüsste er erst, was ich getan habe«, setzte sie wieder an.
»Johanna … «
Ihre Lippen begannen unbeherrscht zu beben, ihre Worte gerieten zu einem Stammeln, aber sie brachte sie dennoch heraus.
»Lass mich bitte gehen, Balduin«,
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