Das Gewicht der Liebe
das Gefühl gab, ihre Beine könnten sie nicht länger tragen.
Es war gut, dass sie ihr Geheimnis nicht verraten hatte. Schlimme Dinge würden passieren, wenn sie das täte.
Bis zum Einbruch der Dunkelheit lag der See unter einer tiefen Decke blauschwarzer Wolken, und ein kalter Wind zerrte an den Bäumen und ließ die Schindeln und Fensterläden klappern. Aldo brachte Kerzen und Sturmlampen herbei und schichtete Holz in die beiden Kamine im großen Zimmer und im großen Schlafzimmer im ersten Stock. Johnny war noch nicht zu Hause, als der Wolkenbruch losging.
Beim Abendessen stocherte Simone in dem Teller mit Lasagne und Salat herum, den Franny vor sie hingestellt hatte. Danach bettelten die Zwillinge, Simone solle mit ihnen Monopoly spielen, und zerrten sie zu einem Sessel. Jedes Mal, wenn sie an der Reihe war, zu spielen, schien sie überrascht zu sein und starrte die Würfel an, als wüsste sie nicht, was sie damit anfangen sollte.
Roxanne nahm an, dass sie irgendwelche Pillen eingenommen hatte.
Simone ging nach oben, und eine Stunde später kam Johnny zur Tür herein, tropfnass und eine Spur aus Schlamm hinter sich herziehend. Die Zwillinge quietsch ten, als sie ihn im Schmutzraum, dem Verbindungszimmer zwischen Haus und Garten, hörten. Er hatte eine Gallone Schokoladeneiscreme mit Nüssen und Marshmallows mitgebracht und servierte den Monopoly-Helden riesige, fröstelnd machende Portionen, ihre dritte oder vierte Portion an diesem Tag, doch Simone hatte das Wochenende zum Eis-Wochenende erklärt, und so sollte es das auch sein. Johnny unterhielt sie mit Einzelheiten über den Ausritt, den er an irgendeinen Ort namens Goose Lake unternommen hatte, über die Entenküken, die er gesehen hatte, und die Bärenkacke und wie er vom Regen überrascht worden war und es ganz in seiner Nähe so stark geblitzt hatte, dass seine Augäpfel angesengt wurden.
Johnnys Liebe für seine Töchter war wie die Justierung eines Thermostats, das sie alle spürten und auf das sie alle reagierten. Er saß am Tisch, in den Armen das sich windende Baby Olivia und seine drei älteren Töchter im Halbkreis um sich gruppiert, eine jede verzückt vor Bewunderung. Er lächelte und scherzte, und als Olivia zu schreien begann, reichte er sie nicht an Franny weiter, sondern hob sie auf seine Schultern und sagte den Mädchen, sie sollten hinter ihm eine Reihe bilden. Sie spielten »Nachmachen, was der Anführer vormacht«, tobten durch das gesamte Erdgeschoss: Tritt nach rechts, Tritt nach links, hüpfen, an der Kommode abschlagen und herumdrehen. Unter lautem Gekreische, Gelächter und Klamauk trapsten sie von Zimmer zu Zimmer. Franny und Roxanne bildeten die Nachhut, Olivia heulte.
Spätabends dann, als Roxanne in einem mollig warmen Bett unter dem Dachgesims lag, sicher vor den Naturgewalten und angenehm schläfrig, wünschte sie, Ty wäre bei ihr. Gleich darauf fiel ihr ein, dass sie zurzeit nicht gut miteinander auskamen, und eine Weile lang quälte sie sich mit dem Gedanken, ob sie an diesem Wochenende nicht lieber in San Diego hätte bleiben sollen, für den Fall, dass er sie brauchte. Ihre Gedanken wanderten ziellos umher, während der Regen alle anderen Geräusche im Haus übertönte. Sie dachte über ihren Schwager im Kreis seiner Kinder nach und über ihren Stiefvater, BJ Vadis, ein großer, stämmiger Mann mit einem dichten Schopf silbergrauer Haare und stechend blauen Augen unter buschigen Brauen, die sich nach oben und unten bewegten, um seine Sätze zu akzentuieren. Als nüchterner Skandinavier ohne viel Humor war er doch auf seine Weise liebenswürdig und großzügig gewesen, hatte Ellen angebetet und Roxanne und Simone gut behandelt.
Roxanne konnte sich nicht vorstellen, dass er je so herumgetobt wäre wie Johnny. Herumtoben entsprach einfach nicht seinem Naturell.
Roxanne hatte keine besonderen Erinnerungen an BJ aus der Zeit vor ihrem zehnten oder elften Lebensjahr, als er für ihre Mutter zu einem wichtigen Menschen zu werden begann. Mit einer denkwürdigen Ausnahme hatten sie nie eine Mahlzeit allein, nur sie beide, eingenommen. Kurz nach der Party, auf der Simone und Johnny ihre Verlobung bekannt gegeben hatten, hatte BJ Roxanne zum Essen in ein teures Steakhaus, das Rainwater’s eingeladen, das bei konservativen Geschäftsleuten beliebt war. Zu dieser Zeit wohnte Roxanne mit Elizabeth zusammen und zahlte ihr Ausbildungsdarlehen und ihre Kreditkartenschulden ab, um dann so bald wie möglich die Anzahlung für ein
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