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Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Guzeman
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Tagen oder einem Jahr nicht besser verstehen können. Sie konnte nicht begreifen, dass ihre eigene Schwester – mit der sie das Blut, die DNS, die Geschichte teilte – sich womöglich als Urheberin ihrer Leiden, ihres langsamen Zerfalls erwies. Doch angesichts dieser Berge von Beweisen musste sie kapitulieren. Sie klappte den Mund auf und wandte sich Phinneaus zu, aber ihre Stimme war bereits auf und davon geschwebt, aus dem Raum hinaus nach Westen, und rief nach einer erwachsenen Frau, die vielleicht ihre Tochter war.
    Dann war sie also eine Mutter – und doch auch wieder nicht. Seit fünfunddreißig Jahren nicht. Mutter. Aber offenbar nicht die Art Mutter, die instinktiv wusste, dass ihre Tochter noch lebte. Sie fühlte sich auf schreckliche Weise wesensverwandt mit Frankies eingesperrter Mutter, die ihren Sohn kannte und sich dennoch nicht für seine Lebensumstände, seine kleinen Triumphe, seine täglichen Kämpfe interessierte. War sie so anders? Wie war es möglich, dass sie alles, was Natalie ihr erzählt hatte, jedes Detail, jede Lüge, einfach geglaubt hatte? Sie hatte zugelassen, dass der Kummer sie träge und dumm machte.
    Phinneaus hob den Umschlag auf. »Alice, wir haben noch keine Gewissheit.«
    »Du hättest es mir nicht erzählt, wenn du dir nicht sicher wärst. Du glaubst, dass sie am Leben ist, oder? Und dass Natalie sie mir die ganze Zeit vorenthalten hat.«
    »Solange ich dich kenne, ist Natalie jedes Jahr zweimal für etwa zwei Wochen weggefahren. Soweit ich mich entsinne, war sie im ersten Jahr direkt vor Thanksgiving weg und dann noch einmal im Frühjahr. Und so ging das Jahr für Jahr.«
    »Aber das waren Urlaube. Sie hat in New York Freunde besucht. War in New Orleans wegen Mardi Gras. In Kalifornien wegen …« Sie verstummte.
    »Vier Wochen Urlaub jedes Jahr? Mit ihrem Gehalt von der Bank?« Phinneaus schüttelte den Kopf. »Und welche Freunde soll sie besucht haben, Alice? Sie war in New York, aber sie hat dort vermutlich jemanden von Steele & Greene getroffen. Ich konnte in ihren Papieren nicht viel über die Firma finden, aber immerhin eine Unterschrift auf einem Mietvertrag.« Er blätterte in seinen Notizen. »Hast du schon mal was von einem George Reston junior gehört?«
    Ihr war zumute, als stürzte ein Gebäude über ihr zusammen. Die letzte Hoffnung, dass Phinneaus vielleicht doch unrecht haben oder es eine andere Erklärung geben könnte, löste sich auf. Natalies erstaunter, reumütiger Blick, als sie auf dem Teppich gelegen und ihre Hand umklammert hatte, kam ihr in den Sinn. Alice hatte sich immer für die Klügere gehalten, aber nun stellte sich heraus, dass man sie mit Leichtigkeit übertölpeln konnte. Sie hatte Georges verzweifelten Kampf um Natalies Zuneigung unterschätzt, er war zu mehr Grausamkeit fähig, als sie ihm zugetraut hatte.
    Welchen Preis hatte Natalie für einen Gefallen dieser Größenordnung zahlen müssen? Sie konnte nur raten. Jetzt wollte sie nur noch, dass Phinneaus ihr half, George Reston aufzuspüren. Er sollte ihn zur Strecke bringen, ihn in einen Raum sperren und sie dann mit ihm allein lassen. Sie hatte nichts mehr zu verlieren.
    Phinneaus redete immer noch, aber Alice nahm seine Stimme nur noch als ein vages Summen wahr.
    »Ich habe die Auszüge von Natalies Kreditkarte überprüft. Darauf sind Flugtickets nach New York ausgewiesen und dann ein, zwei Tage später ein Flug nach Albuquerque. Ich habe auch Abbuchungen einer Mietwagenfirma gefunden, aber keine Hotelgebühren. Sie muss bei ihnen gewohnt haben.«
    »Ihnen?«
    Er räusperte sich. »Therese und Agnete.«
    Alice versuchte, sich zu konzentrieren. »Warum hätte Natalie eine so deutliche Spur legen sollen? Hätte sie nicht bar bezahlt, wenn sie nicht gewollt hätte, dass jemand wusste, wohin sie fuhr?«
    »Warst du seit eurem Einzug jemals im oberen Stockwerk? Wer hätte Natalies Sachen durchsuchen sollen? Saisee? Vielleicht war deine Schwester überzeugt davon, dass du das hier nie zu Gesicht bekommen würdest. Oder vielleicht wollte sie auch, dass man ihr auf die Schliche kommt. Ich weiß es nicht.«
    Alice deutete auf den Umschlag, den Phinneaus noch in der Hand hielt. »Kommt nach diesem Brief noch etwas?«
    »Ich habe nichts gefunden. Aber Natalie hatte Flugtickets. Für den 20. Oktober.«
    »Der letzte Brief ist zurückgekommen.«
    »Ja.« Er gab ihr den Umschlag.
    »Er wurde vor zwei Monaten abgestempelt. Sie könnte inzwischen überall sein.«
    Phinneaus ging um den Tisch herum

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