Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Guzeman
Vom Netzwerk:
vertiefen. Finch hatte recht – es war ein großes Bild. Schon der Rahmen war ein echtes Prachtstück: ein Kassettenrahmen im Arts-and-Crafts-Stil à la Prendergast, mit handge schnitztem, sanft gewölbtem Profil und geriffeltem Rand ab schluss, vergoldet mit zweiundzwanzigkarätigem Blattgold.
    »And on that farm he had a cow …« Die Polimentvergoldung über Profil und Randabschluss war achatpoliert, die Innenleiste mattgrün abgesetzt. Die Ecken des Rahmens waren mit Blattranken punziert und leicht abgeschliffen, um das Poliment besser zur Geltung zu bringen. Die Tischlerarbeit erschien solide, und der Gesamtzustand des Rahmens war gut. In Anbetracht seiner Größe mochte der Rahmen zehn- bis fünfzehntausend Dollar oder noch mehr wert sein.
    Stephen blickte auf. Die drei anderen beobachteten ihn aufmerksam. Nun legte er das Bild frei und holte ein Paar Baumwollhandschuhe aus seiner Jackentasche. Nachdem er seine Uhr ausgezogen hatte, wedelte er mit einem zwei ten Paar Handschuhe in Richtung Cranston und sagte: »Sie sollten Ihre Uhr ablegen und auch die Manschettenknöpfe.« Er schaute Bayber an.
    »Wo können wir es hinstellen?«
    »Hier, an die Wand.«
    Cranston nickte Stephen zu. Die beiden hoben das Gemälde vorsichtig an und trugen es zur hinteren Wand, an der sich ein kleiner Fleck Sonne ausbreitete. Dort lehnten sie das Bild behutsam an, traten dann zurück und stellten sich neben Finch und Bayber, der inzwischen aufgestanden war und sich am Sesselrücken festhielt. Stephen fragte sich, ob er aufgeregt war oder ob er schon lange keine Unsicherheit mehr kannte. Aber der Mann wirkte eher schmerzerfüllt als ängstlich, ganz so, als hätte er keine glücklichen Erinnerungen an das Werk. Die drei betrachteten das Gemälde, musterten Bayber mit erhobenen Augenbrauen und richteten ihren Blick wieder auf das Gemälde.
    Auf einer angelaufenen Platte am unteren Rand des Rahmens stand: »Die Kessler-Schwestern.« Man sah ein Wohnzimmer mit grob getäfelten Wänden, Holzdielen, ho her Decke und einem Schlafboden. Offensichtlich gehörte das Zimmer zu einem größeren Ferienhaus. Es war ein Nachmittag im Spätsommer. Die Rückseite bildete eine Fensterwand, deren Flügel offen standen. Der Künstler hatte Vorhänge hinzugefügt, um eine sachte Brise anzudeuten, und Stephen konnte ihren Hauch beinahe im Nacken spüren. Ein Saum von Efeu ließ das Rechteck des Fensters verschwimmen, und in der Ferne war schwach ein Streifen Wasser erkennbar. Streulicht erhellte diffus diverse Stellen des Bildes – einen Flecken des ausgeblichenen Orientteppichs, das Zifferblatt der Standuhr, die aufgeschlagenen Seiten eines Buches auf dem Couchtisch. Der Raum war voll mit Gegenständen, jeder einzelne behaftet mit einem gespenstischen Glanz, der ohne Zweifel von der Untermalung herrührte – so als würde allem die gleiche Bedeutung zugemessen.
    Drei Personen standen im Mittelpunkt des Gemäldes: ein junger Mann, vielleicht Ende zwanzig, und zwei junge Mädchen. Stephens Haut kribbelte. Der junge Mann war ganz eindeutig Bayber selbst. Ob es nun der Ausdruck auf seinem Gesicht war oder die Art, wie die Mädchen neben ihm positioniert waren, wusste Stephen nicht genau, aber er spürte einen Hauch von Unbehagen, als er die Leinwand betrachtete.
    Der Künstler hatte seine eigene jugendliche Arroganz eingefangen und auf die Leinwand gebannt. Nein, es war kein schmeichelhaftes Porträt. Bayber lehnte auf einem kleinen zweisitzigen Sofa, einen Fuß auf das gegenüberliegende Knie gelegt. Stephen konnte die abgeriebenen Stellen an seinen Bootsschuhen sehen. Baybers weißes Anzughemd mit hochgekrempelten Ärmeln und offenem Kragen wirkte so geschmeidig wie Seide. Seine Khakihosen sahen abgetragen aus – ihre Falten und deren Schatten waren so meisterhaft ausgearbeitet, dass Stephen gegen den Zwang ankämpfte, die Hand auszustrecken und den Stoff glatt zu ziehen. Baybers Haar war lang, dunkle Locken umrahmten sein Gesicht. Ein Überwurf zierte die Lehne des Sofas, auf dem er saß. Einer seiner Arme ruhte auf dem Sofarücken, der andere auf seinem Oberschenkel. Höflich ausgedrückt, wirkte Bayber selbstbewusst; weniger freundlich hätte man seine Haltung als selbstgerecht beschrieben. Er schaute geradeaus – als wäre er fasziniert von dem Mann, der dabei war, all dies einzufangen.
    Die beiden Mädchen dagegen betrachteten Bayber. Die ältere der beiden lächelte derart durchtrieben, dass es einem Vater das Herz brechen musste. Stephen

Weitere Kostenlose Bücher