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Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Guzeman
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Schneidersitz auf der Straße saß und versuchte, Alices Hosenbein aus der Fahrradkette zu befreien. Alice schob die Gardinen zur Seite und schaute über den See. Wohin war diese Schwester verschwunden? Die Sonne stand tief am Himmel, gerade noch ein Halbkreis war am Horizont zu sehen, und das Wasser war grau wie eine Bleistiftmine. Totenstille.
    Sie ließ sich auf eins der Betten fallen und zog die Überdecke aus Chenille über die Schultern. Im Zimmer wurde es kälter. Sie fragte sich, ob sie aufstehen und das Fenster schließen sollte, hatte aber nicht genügend Energie dazu – sie musste danach ja auch wieder zurückkommen ins Bett. Darum vergrub sie sich einfach noch tiefer unter der Decke und lauschte dem Echo der aufkommenden Nacht: den gedämpften Vogelgesängen, dem Klicken der Fledermäuse, dem zögerlichen Rascheln der kleinen Tiere. Als sie mitten in der Nacht einmal aufwachte, war das Zimmer mit dem milchigen Licht des Mondes geflutet. Die Welt schien nur noch aus Schatten zu bestehen, wie in einer anderen Dimen sion. Sie horchte aufmerksam, dann noch aufmerksamer, lauerte auf die Geräusche ihrer Eltern, die sich im Zimmer nebenan bewegten. Und irgendwann, als ihr schon die Ohren wehtaten, schlief sie wieder ein, beim Warten auf etwas, das nicht da war.
    Im Traum streckte sie sich, mit Armen und Beinen so dünn wie Seegras, mit Knochen so flexibel wie Gummibänder, mit einem Rücken so biegsam wie ein Flitzebogen. Grünes Wasser umschloss sie. Ihr eigener Elan erstaunte sie: Sie hatte ihre Anmut wieder, und ihre Bewegungen wirkten fließend. Aus dem Strecken wurde Schwimmen, aus dem Schwimmen Laufen, bis das Wasser zähflüssig wurde und ihren Körper bremste.
    Beim Aufwachen roch sie den Rauch aus dem Kamin und den schweren Duft von Harz. Sie blinzelte, um die Traumwelt hinter sich zu lassen. Die Morgensonne schien durch das Schlafzimmerfenster, und mit ihr kam die altvertraute Steifheit der Glieder und Gelenke. Die notwendigsten Elemente ihres Knochengerüsts hatten sich in eine Ansammlung von Haken und Ösen verwandelt, die gegeneinanderrieben und zu unbeweglichen Teilen verschmolzen – versteinerte Versionen der Knoten, die ihr Vater ihr als Kind beigebracht hatte.
    Sie standen auf der Anlegestelle: Alice und Natalie und ihr Vater, nur ein paar Steinstufen unterhalb des Häuschens. Das flache Boot der Restons schaukelte auf dem Wasser und blieb manchmal am Steg hängen, bis die Wellen es mit einem Ächzen wieder befreiten. Die dreizehnjährige Natalie war schon damals mehr an ihrem bewegten Spiegelbild im Wasser interessiert als an irgendwelchen Lektionen; Alice jedoch nahm die Gelegenheit wahr, einmal die ungeteilte Aufmerksamkeit ihres Vaters zu genießen.
    »Ihr beide müsst wenigstens die Grundlagen der Seefahrt lernen«, sagte der Vater, der anscheinend nicht gemerkt hatte, dass keine seiner Töchter den Wunsch verspürte, auf den dunklen See hinauszufahren. Mit der Spitze seiner neuen Bootsschuhe hielt er eine Seite des Knotenbuchs offen. Alice erinnerte sich an die scharf abgesetzten Schwarz Weiß-Zeichnungen, auf denen zu sehen war, wie ein zerschlissenes Stück Seil sich von einer Darstellung zur anderen immer mehr verknotete, bis es auf magische Weise zu einem völlig undurchdringlichen Knäuel geworden war.
    Ihr Vater hielt ein Stück Seil in der Hand. »Das Ende, mit dem ihr arbeitet, heißt das freie Ende. Der Rest des Taus ist das stehende Ende. Noch bevor der Sommer vorbei ist, werdet ihr den Kreuzknoten, den Webleinstek, den Palstek und den Klampenschlag beherrschen.« Der Vater drückte Alices Schulter. »In null Komma nichts wirst du eine Affen faust knüpfen können, Alice. Du kriegst einen Vierteldollar für jeden neuen Knoten, den du beherrschst.«
    Den ganzen Nachmittag über saß sie auf der Anlegestelle auf den warmen Brettern, die Seeluft in der Nase, und übte mit dem Tau: drunter, drüber, drumherum und durch. Nach einigen Stunden bestand das Tau aus einer Reihe misslungener Knoten. Natalie lag derweil neben ihr und ließ Steine über das Wasser flutschen. Sie hatte die Ärmel bis zu den Schultern hochgekrempelt und die Beine ihrer Jeans an den Knien ordentlich umgeschlagen. Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete sie Alice.
    »Wird es dir nicht irgendwann einmal zu blöd, immer zu machen, was du machen sollst?« In dieser Frage lag keinerlei Sarkasmus, nur ein wenig Verwirrung. Natalie schien nach etwas zu suchen, was sie selbst nicht verstand.
    »Wenigstens eine von

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