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Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Guzeman
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»Vielleicht habe ich doch etwas, das ich Ihnen zeigen kann. Warten Sie kurz?«
    Seine Miene blieb unbewegt, aber er nickte. »Na schön.«
    Sie stand aus dem Sessel auf und schleppte sich in ihr Schlafzimmer. Jemandem zu vertrauen war ihr genauso fremd wie schnelles Laufen. Als sie zurück ins Wohnzimmer kam, stellte sie sich vor ihm auf. »Strecken Sie die Hände aus, die Handflächen nach oben.«
    »Und die Augen soll ich schließen? In Ordnung.«
    Sie sah das Blau des Gegenstands in seinen Händen verschwinden und schaute ihn gespannt an. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Er konnte nicht ahnen, was ihr dieses Ding bedeutete, aber er ging so vorsichtig damit um, als hielte er ein lebendiges Wesen in den Händen, ein Stück Himmel zwischen den fest aneinandergepressten Fingern.
    »Das ist ein Azurbischof.«
    »Ja!« Sie war entzückt. »Kennen Sie sich damit aus?«
    »Jawohl, Madam.«
    Jawollmadam.
    »Hier habe ich noch keinen gesehen«, sagte sie.
    »Das werden Sie auch nicht. Sie leben nämlich in den Wäldern außerhalb der Stadt. Da gibt es auch viele Kuhstärlinge und Waldlaubsänger.« Aufmerksam untersuchte er den Vogel. »Aus solcher Nähe habe ich noch nie ein Exemplar gesehen. Es ist interessant, wie die Federn hier übereinanderliegen, und diese grauen Tupfen auf der Brust. Haben Sie schon viele davon beobachtet?«
    »Nein.« Sie drehte den Kopf zum Fenster. »Nur diesen hier.« Erinnerungsfetzen stiegen in ihr auf: eine abgeschlossene Schlafzimmertür, lautes Klopfen.
    »Aber Sie haben Ahnung von der Ornithologie?«
    »Ja.«
    Er fuhr sich mit den Fingern über das Kinn. »Vielleicht können Sie mir bei einer Sache helfen. Es gibt da eine Pfadfindertruppe in der Stadt, na ja, eher ein zusammengewürfelter Haufen, aber ich unterstütze die Jungs dabei, ihre Abzeichen zu bekommen. Im Zeltaufbau, Fischen und Schießen. Es gibt auch ein Abzeichen für Vogelkunde.«
    »Ach nein, lieber nicht …«
    »Lassen Sie mich ausreden, Alice. Vielleicht klingt es lächerlich, aber für die Jungs ist es sehr wichtig, sich das Abzeichen zu verdienen. Dazu müssen sie fünfzehn verschiedene Körperteile eines Vogels kennen. Und zwanzig Arten identifizieren und ein Beobachtungsbuch führen. Von diesen zwanzig Vögeln wiederum müssen sie fünf nur am Gesang erkennen können. Sie sagten, Sie kennen sich aus in der Vogelkunde.«
    Sie hatte sich so viel beigebracht, und jetzt konnte sie nichts mehr damit anfangen. Wofür war ihr Wissen gut, wenn es doch nur in einer dunklen Ecke ihres Gehirns vor sich hin dümpelte? Alle möglichen Fakten schossen ihr durch den Kopf wie aufgescheuchte Schwalben. Stolz stellte sie fest, an wie viel sie sich noch erinnerte. Es waren nur die Sperlingsvögel, die Vögel der Ordnung Passeriformes, die überhaupt sangen. Fast die Hälfte aller Vögel auf der Welt sangen nicht, aber auch sie kommunizierten mit Geräuschen – in diesem Fall waren es Rufe, keine Gesänge. Die meisten Vögel hatten fünf bis fünfzehn besondere Rufe, die sie für bestimmte Zwecke einsetzten: für die Revierverteidigung, zum Herbeiholen von Hilfe, zur Orientierung im Schwarm – es gab sogar bestimmte Rufe, die Beginn und Ende des Flugs anzeigten. Es gab Nestrufe, Fütterungsrufe, Freudenrufe. Manche Küken verständigten sich mit ihren Müttern schon aus dem Ei heraus. Der Gedanke daran versetzte ihr Stiche ins Herz.
    »Ich möchte Sie nicht bedrängen. Aber denken Sie darüber nach. Sie würden den Jungs und ihren Familien damit sehr helfen.«
    Damit eröffnete er ihr eine ganz neue Möglichkeit: Wenn sie den Kindern half, würden deren Eltern sie akzeptieren müssen. Er reichte ihr die Figur zurück, noch warm von seinen Händen.
    »Derjenige, der den Vogel gemacht hat, hat sich große Mühe gegeben, das sieht man. Haben Sie ihn geerbt?«
    »Nein.« Mit dem plötzlichen Vergnügen daran, ihn zu schockieren, sagte sie: »Ich habe ihn gestohlen. Und mich wollen Sie bei den Pfadfindern haben?«
    »Tja, es gibt auch ein Abzeichen für das Verhindern von Verbrechen.« Er sah ihr direkt in die Augen. Sie verzog keine Miene. Vielleicht konnte sie eine Freundschaft mit ihm beginnen, aber für heute hatte sie genug über sich selbst preisgegeben.
    »Alice Katherine Kessler«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Zu schade, dass ich diese Geschichte niemandem weitererzählen kann. So eine Information wäre nämlich eine Menge wert.«

9
    November 2007
    I st das eine Einladung aus Mitleid?« Die Vorstellung, dass Lydia ihn als

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