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Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Guzeman
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Verstohlenes in ihrem Blick. Alice verspürte beinahe das Bedürfnis, ihn vor ihrer Schwester zu warnen.
    »Wenn Sie nicht gerade den ganzen Tag auf unser Haus starren, woher wollen Sie dann wissen, wann ich rausgehe? Oder auch nicht? Haben Sie mal darüber nachgedacht, dass ich vielleicht das Haus verlasse, wenn Sie bei der Arbeit sind?«
    »Nein, Madam. Ich arbeite nämlich von zu Hause aus, wie Sie bestimmt wissen.« Er bedachte sie mit einem vielsagenden Blick. »Vielleicht führen Sie sogar Buch darüber, wann ich das Haus verlasse und wiederkomme. Aber ich will einräumen, dass es möglich wäre.«
    »Und was machen Sie so, Phinneaus, wenn Sie sich nicht gerade über meinen angeblichen Mangel an Ausgang sorgen?«
    »Ihren Mangel an Ausgang?« Er grinste. Sie wusste, dass er ihren lahmen Versuch, das Thema zu wechseln, bemerkt hatte. »Ich dachte, wir reden über Sie, Alice, aber ich erzähle Ihnen gerne alles über mich, was Sie wissen möchten. Aber ich warne Sie schon mal vor: Meine Geschichte ist so langweilig, dass Sie dafür nicht mal ein Bier bekommen würden. Ich helfe den Leuten. Zum Beispiel mit der Steuererklärung. Ich verstehe von allem etwas, aber in einem Bereich bin ich Spitzenklasse.«
    »Und in welchem?«
    »Es klingt ziemlich angeberisch, aber es ist wahr. Gott hat mir eine Gabe verliehen: Ich verstehe, wie Sachen funktionieren. Ich kann sehen, wie sie aufgebaut sind. Geben Sie mir irgendetwas, das kaputt ist, und ich finde den Fehler. Egal, was das für ein Ding ist, ein Getriebe, etwas Mechanisches, etwas Elektrisches oder ein Motor. Ich bin selig, wenn ich ein defektes Gerät vor der Nase habe und daran herumpuzzeln kann.«
    Seine Ehrlichkeit war entwaffnend. Sie konnte sehen, dass er die Wahrheit sagte. Seine Augen leuchteten, und seine Finger zuckten, wenn er darüber sprach, wie er die Dinge wieder in Ordnung brachte. Sein Körper spannte sich auf eine Art an, die sie nur zu gut kannte. Er wusste, wie man still dasaß und sich auf eine einzige Sache konzentrierte.
    »Sie und ich haben einige Dinge gemeinsam. Sie werden es mir vielleicht nicht glauben, weil ich so schrecklich direkt bin, aber eigentlich bin ich ein zurückgezogener Mensch. Nach der Armee habe ich mich hier niedergelassen. Die meisten Leute im Städtchen wohnen schon ihr ganzes Leben lang hier, genau wie ihre Eltern und Großeltern. Das ist kein Ort, an den man hinzieht. Eher zieht man weg, wenn man genug hat. Und darum sind Leute wie Sie und ich Exoten. Die Leute wollen wissen, warum wir hergekommen sind.«
    Sie musste zugeben, dass es tatsächlich einiges gab, was sie über ihn wissen wollte. Warum war er hergezogen? Wo hatte er vorher gelebt? Hatte er eine Familie? Er war nicht viel älter als sie selbst, und die Wunde am Bein machte ihn zu einem interessanten Objekt für die Neugierigen, auf dieselbe Art, wie sie es auch kannte. Das hatten sie tatsächlich gemeinsam. Und sie lebten beide in diesem kleinen Ort. Trotz ihrer Hemmungen sinnierte sie darüber, wie es wäre, einen Freund zu haben. Jemanden, dem man alles anvertrauen konnte. Sie und Natalie sprachen zwar kaum miteinander, aber Natalies Abwesenheit untertags trug dazu bei, dass Alice sich schrecklich einsam fühlte. Sie hätte gerne mit Saisee geredet, aber die Frau wusste genau, von wem sie ihr Geld bekam, darum machte sie ihre Arbeit gewissenhaft und hatte wenig Zeit zum Plaudern. Alice fragte sich manchmal, ob es die Einsamkeit sein würde, die letztlich zu ihrem Untergang führte – obwohl es dafür noch eine ganze Reihe anderer Kandidaten gab.
    »Das ist eine interessante Theorie«, sagte sie. »Aber Sie haben recht. Ich glaube, Ihre Geschichte ist wirklich nicht so aufregend. Aber haben Sie denn nicht noch ein dunkles Geheimnis?«
    »Ich habe Ihnen meine Narbe doch gezeigt.«
    »Wir reden ja wie Kinder.« Sie lachte, und dieses Geräusch klang ganz fremd in ihren Ohren. Er stimmte ein. »Ach, Narben«, sagte sie. »Davon habe ich selbst genug. Das reicht nicht.«
    »Was wollen Sie denn noch?«
    »Sie haben eine Tätowierung.«
    Sie beobachtete, wie sein Mund sich verzog, als hätte er in eine Zitrone gebissen.
    »Das geht Sie nichts an.«
    Die plötzliche Maßregelung überraschte sie, und sie hätte die Bemerkung gerne zurückgezogen. Warum hatte sie nicht nach etwas anderem gefragt? Sein Lachen hatte etwas in ihr an die Oberfläche geholt, und sie merkte, wie dringend sie jemanden brauchte, mit dem sie reden konnte, wenn auch nur über das Wetter.

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