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Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Guzeman
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der anscheinend immer zu nass war, um ihn zu schließen. Der Sommer war da, und mit ihm die flirrende Hitze. Er waberte wie eine Fata Morgana, aber sie konnte den Umriss seines nackten Oberkörpers, seine muskulösen gebräunten Arme, eine Tätowierung auf dem rechten Arm direkt unter der Schulter ausmachen. Ein Herz? Der Name seiner Mutter, die ihm beigebracht hatte, wie nützlich ein Nusskuchen war? Dafür war Alice zu weit entfernt.
    Im Herbst begann sie zu spekulieren. Sie vernachlässigte ihren Beobachtungsposten und erfand sich ein Leben für ihn, das sie aus ihren wenigen Observationen und einigen Geräuschen zusammensetzte; da war das Brummen seines Autos, wenn er freitags und samstags gegen Abend weg fuhr, woraus sie schloss, dass er ein Sozialleben haben musste. Bestimmt hatte er eine Freundin, deren Garderobe Alice sich aus Natalies herumliegenden Modemagazinen zusammenpuzzelte. Die Freundin war zierlich und sommersprossenübersät und mochte schulterfreie Kleider, Plateauschuhe und Lipgloss, das nach reifen Früchten duftete. Vielleicht war sie aber auch schon älter und abgeklärter, hatte eine Frisur mit viel Haarspray und einen Stammplatz an der Bar am Stadtrand.
    Ende Oktober zog der Geruch von getrocknetem Gras und frisch gelockerter Erde durch die Fliegengittertür herein. In seinem Vorgarten harkte Phinneaus Laub zu einem großen Haufen zusammen. Doch plötzlich blieb er stehen und blickte genau dorthin, wo sie stand und ihn durchs Fenster beobachtete. Sie verharrte bewegungslos, aber es war zu spät. Er hatte sie schon entdeckt. Obwohl sie den Vorhang sofort wieder fallen ließ und sich dahinter verstecken konnte, lief sie knallrot an. Jetzt würde er sie für einen einsamen Menschen halten. Einen anderen Schluss ließ ihr peinliches Verhalten nicht zu.
    Würde er so tun, als wäre nichts gewesen? Schon am nächsten Nachmittag beantwortete sich diese Frage, als er an ihrer Tür klingelte. Bevor sie Saisee zurufen konnte, sie solle nicht aufmachen, stand er schon vor ihr im Wohnzimmer. Sie saß genauso da wie bei seinem ersten Besuch, hatte sich in aller Eile eine Decke über den Schoß geworfen.
    »Hegen Sie einen bestimmten Verdacht gegen mich, Miss Alice?«
    »Ich … nein! Natürlich nicht.«
    »Ehrlich gesagt habe ich Sie bisher nicht unbedingt für eine Detektivin gehalten.«
    In seinen Worten lag große Freundlichkeit. »Das haben Sie sehr taktvoll ausgedrückt, Mr. Lapine. Ich weiß nicht, ob ich so viel Großzügigkeit wirklich verdiene.«
    »Phinneaus.«
    »Phinneaus, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Ich schäme mich.«
    »Das sollten Sie auch. Sie könnten Ihre Zeit sicher sinnvoller verbringen.« Er sah ihr direkt in die Augen; sein Blick war scharf und wertend, als hätte er sich gerade eine Meinung über sie gebildet. »Vielleicht sollten wir ganz einfach zugeben, dass wir einander interessant finden.«
    »Sie finden mich interessant?«
    »Wie die meisten Menschen hier. Ist das so abwegig?«
    Sie war entschlossen gewesen, die verdiente Strafe anzunehmen, aber als sie seinen Tonfall hörte, sträubten sich ihr die Haare. »Und jetzt wollten Sie nachschauen, ob an den Gerüchten etwas dran ist.«
    »So ist es.«
    Sie hob das Kinn und erwiderte: »Und sie stimmen tatsächlich, von vorn bis hinten.«
    »Na ja, nicht ganz. Ich kann ja mit eigenen Augen sehen, dass Sie nicht schielen. Und Sie entstammen auch keiner Mischlingsehe. Sie haben zwar noch nicht viel gesagt, aber Sie leiden wahrscheinlich nicht am Tourette-Syndrom. Aber vielleicht überraschen Sie mich da ja noch.«
    Sie konnte nicht mehr. Das war alles so absurd, dass sie lachen musste. »So etwas wird über mich erzählt?« Sie schob die Decke von sich, die neben ihren Füßen auf den Boden fiel. Die Hände legte sie in den Schoß, sodass er sie betrachten konnte.
    »Ach, so ist das«, sagte er leise. In seiner Stimme war kein Mitleid, sondern etwas anderes. »Arthritis?«
    »Ja. Etwas Exotischeres habe ich leider nicht zu bieten. Und hier sehen Sie das ganze Ausmaß meiner Krankheit.«
    Er deutete auf den Sessel am anderen Ende des Tisches. »Darf ich?«
    Sie nickte. Er setzte sich und krempelte langsam das rechte Hosenbein hoch. Als er kurz unter dem Knie angelangt war, zuckte er zusammen. Alice biss sich auf die Lippe, als der Stoff aufgerollt war und eine gezackte Narbe sichtbar wurde, die sie an eine sehr schlampig gemachte Schreinerarbeit erinnerte: zwei hervortretende Stücke Haut, die nicht ganz genau

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