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Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Guzeman
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Kameraden zu beeindrucken, und unscheinbar genug, um selbst etwas dazuzuerfinden.
    »Und außerdem sagt man nicht ›echt‹, sondern ›wirklich‹.«
    Frankie runzelte die Stirn, bemüht, ihre Verbesserung in sich aufzunehmen. Er betrachtete seine Umwelt mit der typischen Neugier eines Achtjährigen. Ein Ausdruck wie »mit einem Bein im Grabe stehen« löste in ihm eine ganze Reihe gruseliger Vorstellungen aus. Vor zwei Wochen hatte er aufgeschnappt, wie Saisee diese Worte im Zusammenhang mit einer kranken Tante gebrauchte, und es war offensichtlich, dass dieses Bild ihn verstört hatte. Auf dem Nachhauseweg von der Schule klammerte er sich an seinem Onkel fest, bis sie den Friedhof endlich passiert hatten.
    »Dafür ist der Zaun da, nicht wahr, Phinneaus?«
    »Was meinst du?«, hatte Phinneaus gefragt und eine der spitzen Eisenstangen mit der Hand umfasst.
    »Er soll doch die Füße der Leute raushalten, damit sie nicht gepackt und rübergezogen werden.«
    Später erzählte Phinneaus Alice die ganze Geschichte, und beide schütteten sich aus vor Lachen. In diesem Augen blick hatte sie eine große Zuneigung zu ihm verspürt. Sie war ihm dankbar dafür, dass er einen Platz in seinem Leben für sie gefunden hatte, auch dann noch, nachdem Frankie aufgetaucht war, und dass er sich große Mühe gab, ihre Freundschaft zu pflegen. Frankie gehörte ihr nicht, das war ihr immer klar gewesen. Er hatte ja eine Mutter, nämlich Phinneaus’ Schwester, die eines Tages vielleicht wieder zurückkommen und Ansprüche auf Frankie erheben würde. Aber bis dahin gab es zwischen ihr und dem Jungen eine Verbindung, und dafür war sie dankbar.
    »Das heißt natürlich, dass er uns alt findet«, sagte Phin neaus. »Vielleicht stehen wir nicht mit einem Bein im Grabe, aber durchaus mit ein oder zwei Zehen. Kein Wunder, dass er mich immer auf die andere Straßenseite zieht.«
    »Sind wir denn alt?« Die Zeit war einfach von ihr fortgeflogen, die Minuten waren wie Vögel mit einem einzigen Flügelschlag verschwunden. Wie seltsam, dass sie sich immer alt gefühlt hatte, als sie in Wirklichkeit noch jung war. Und jetzt, da man sie nicht mehr jung nennen konnte, egal, aus welchem Blickwinkel man es auch betrachtete, da kam sie sich nicht alt vor. Sie hatte eher das Gefühl, endlich ganz bei sich angekommen zu sein und in dem Alter, das ihr entsprach.
    Frankie beugte sich über seine Schularbeiten und seufzte. Alice lächelte. Als Aufsichtsperson eignete sie sich durchaus. Sie sah sich im Zimmer um. Ab wann war ihr das Haus nicht mehr fremd, sondern vertraut vorgekommen? Das, was sie immer geärgert hatte – der schiefe Parkettboden, die winzigen Sprünge in einem der hohen Fenster, der modrige Geruch nach Rüben, der in allen Ritzen hing und aus irgendeinem vergessenen Keller hochstieg –, hatte sich so fest in ihr Bewusstsein eingegraben, dass es zu einem Teil von ihr geworden war. Und das Haus selbst war robuster, als sie geglaubt hatte. Fünfunddreißig Jahre hatte sie in ihm gewohnt, und die meiste Zeit hatte sie sich eingeredet, dass sie gar nicht hierhergehörte. Fünfunddreißig Jahre, in denen sie ihr Leben nur halb gelebt hatte; unwillkürlich dachte sie an die Halbwertszeit einer radioaktiven Substanz, die man in Beton gießen und vergraben musste.
    Wenn sie ihr Leben nur halb gelebt hatte, dann war es Natalie, die sich den Rest genommen hatte. Ihre Schwester war älter geworden, hatte sich dieser Entwicklung aber vehement entgegengestemmt, mit einem Arsenal an Tiegeln und Tuben, mit Unterwäsche, die ihr weiches Fleisch straffte, mit Haarfarbe und Zahnweiß und Kontaktlinsen. Sie behielt ihre langen Haare und machte Kuren mit Mayonnaise, während andere Frauen sich Kurzhhaarfrisuren schneiden ließen. Sie trug Röcke, die weit über dem Knie endeten und ihre helle Haut entblößten, während die Modemagazine die Rückkehr des Maxirocks verkündeten. Während die anderen Punsch tranken, bestellte Natalie sich einen Gin Tonic; bisweilen trank sie auch ein paar Ramos Gin Fizz mit ihren Freundinnen oder solchen Frauen, die so taten, als wären sie ihre Freundinnen, um an den neuesten Klatsch heranzukom men. Wenigstens hält sie sich an Frauendrinks, sagte Saisee, als würde dadurch alles wieder gut.
    Um dieselbe Kleidergröße wie in der Highschool zu behalten, hatte Natalie jeden Tag drei Meilen zurückgelegt; vorbei an Rubys Salon und am Eisenwarenladen, vorbei an der Bank und am Marktplatz. Vorbei an der Post, wo sie immer kurz

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