Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)
den Fluss spannte.
Säuberlich behauene Steine mit einem Mörtel aus Lehm und Sand bildeten ein elegantes Bauwerk. Balustraden säumten die Brücke, und die mächtigen Pfeiler waren aus großen Steinen nahtlos zusammengefügt. Der Baumeister hatte sich große Mühe mit den hölzernen Pfosten der Balustraden gegeben, die spitz zuliefen und von der Mitte der Brücke aus in gleichmäßigen Abständen anstiegen. Die flachen Steinplatten an beiden Enden hatten perfekt abgeschrägte Kanten. Der Stein war in vielen Jahren der Feuchtigkeit und Sonne gedunkelt und wirkte in der Morgensonne sehr imposant.
Gras wuchs auf dem Rand der Brücke und wurzelte in den Spalten, wo Wind und Wasser den Mörtel ausgewaschen hatten.
Auf der anderen Flussseite endete die Brücke vor der steilen Felswand an einer Stelle, wo sich eine Schlucht öffnete wie ein Riss im Gestein. Tahn fragte sich auf einmal, ob die Schlucht als Ausgang für die Brücke geschaffen worden war oder die Brücke genau hier stand, damit man in diese Schlucht gelangte.
Sutter grinste Tahn unbekümmert an und ritt über die Brücke. Der Hufschlag auf dem alten Stein klang sehr laut, und Tahn blickte sich unwillkürlich um wie ein Dieb, der nicht ertappt werden will. Widerstrebend folgte er seinem Freund.
Die große Brücke endete an einem steinernen Tor. Sutter drückte mit der linken Hand dagegen. Der mächtige Stein rührte sich nicht.
»Wärst du so gütig?«, fragte Sutter sarkastisch.
Tahn ritt an das Tor heran, und gemeinsam stemmten sie sich dagegen. Es öffnete sich langsam. Gleich darauf hatten sie es weit genug aufgeschoben, um hindurchzureiten.
Sutter zögerte einen Augenblick.
»Angsthase«, höhnte Tahn.
Sutter lächelte breiter. »Darf ich dich daran erinnern, dass ich derjenige war, der Anais Polera auf den Hintern geklatscht hat, als sie sich umdrehte, um vor unseren Rübengeschossen zu fliehen?« Damit ritt Sutter durch die Öffnung.
43
NARBEN UND MALE
M ira war schon zuvor im Mal gewesen. Sie kannte seine Geheimnisse und sein Schweigen. Nicht so gut wie der Sheson, von dem sie glaubte, er könne im Staub die Stimmen jener hören, die vor Urzeiten in einer letzten verzweifelten Schlacht gegen die Stille gefallen waren. Und nicht so gut wie der Mann Grant, der hier lebte. Doch das Mal beunruhigte sie genauso wie der Soliel, wenn sie diese leeren Weiten allein durchstreifte. Doch hier waren die Erinnerungen viel bitterer.
Mira wusste, dass dieser Besuch im Mal ihr weitere schmerzliche Erinnerungen bescheren würde. Das wusste sie, weil sie kürzlich ein Rabe mit einer Botschaft aus Naltus erreicht hatte. Und weil alle Kinder des Soliel ein missliches Schicksal gemein hatten. Während sie über dieses Unglück ihrer Kindheit nachdachte, fiel ihr der Augenblick wieder ein, in dem sie erkannt hatte, wie schwer es war, mehr als eine Mutter zu haben.
»Das verstehe ich nicht«, sagte Mira. »Du bist doch meine Mutter. Das hast du gesagt.«
Sie stand in ihrem warmen, behaglichen Heim und übte die Grundformen, die sie gelernt hatte. Bisher nur Bewegungen der Arme und Füße, denn sie war ja erst vier. Noch ein Umlauf, dann würden sie die Übungen mit Waffen beginnen. Während sie die Grundformen ein ums andere Mal wiederholte und dabei von ihrer Mutter korrigiert wurde, unterhielten sie sich. Das war Miras liebste Tageszeit, denn ihre Mutter Genel lehrte Mira stets auch andere Dinge, während sie die einfachen Bewegungen übte. Ihre Freundinnen schienen keine solchen Stunden mit ihren Müttern zu genießen.
»Mira, du musst mir gut zuhören. Ich bin deine Mutter, weil ich mich im Augenblick um dich kümmere. Aber ich habe dir nicht das Leben geschenkt. Die Frau, die dich zur Welt gebracht hat, hieß Mela. Sie erfüllte ihre Berufung im ersten Jahr nach deiner Geburt.« Genel machte sie darauf aufmerksam, dass ihr linker Fuß zu weit hinten stand.
Mira korrigierte ihre Haltung. »Was bedeutet das, ihre Berufung erfüllt?«
»Wenn eine Fern das Alter der Rechenschaft erreicht, wird sie heimgerufen ins nächste Leben. Diese Ehre wurde uns als Dank für den großen Dienst geschenkt, den wir leisten. Wir werden niemals die Angst und den Schmerz der Rechenschaft über schlechte Taten oder Worte erleben. Das ist ein großer Segen.«
»Es ist ein Segen, früh ins Grab zu gehen?« Sie verstand das nicht. Wenn man etwas gut gemacht hatte, sollte man eine schöne Belohnung bekommen, fand sie, nicht so etwas wie den Tod.
Ihre Mutter unterbrach Miras
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