Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)
lange mit dem Sheson vertraut, als dass seine Fähigkeit, die inneren Nöte der Leute um ihn herum zu erraten, sie noch überrascht hätte. Dennoch blieb sie diesmal zurückhaltend. »Und was sollte ich deiner Vermutung nach vergessen wollen?«
»Deine Schwester. Die Bürde, die sie durch ihren Tod an dich weitergegeben hat. Dein Ringen mit der Kindheit – deiner eigenen und der aller Kinder deines Volkes.« Seine Augen blickten traurig, als er das sagte, doch sie hatte den Eindruck, dass diese Traurigkeit nicht ihr allein galt. »Dieser Ort«, fuhr er fort, »bringt uns dazu, uns zu erinnern. Und das ist für dich und mich selten ein fröhliches Gedenken, meine Freundin. Aber lass dich davon nicht niederdrücken. Durch dieses Land zu reisen belastet mit unseren Erinnerungen … ist eine gute Prüfung für das, was uns noch bevorstehen mag.«
Mira starrte ihn wortlos an.
»Aber es ist schwer für dich, nicht wahr?«, fragte Vendanji. »Vor allem wegen der Gefühle für den Jungen, die sich in dir regen.«
Es wäre zwecklos gewesen, das zu leugnen, und sie wollte es auch gar nicht abstreiten. »Diese Gefühle haben keinerlei Einfluss auf das, was ich tun muss und wozu ich hergekommen bin«, erwiderte sie.
Vendanji lächelte matt. »Ich weiß, Mira. Aber du verbringst so viel Zeit mit mir – gib acht, dass du mir nicht allzu ähnlich wirst. Deine Zukunft mag kurz sein, aber sie ist es wert, dass du sie lebst. Lass dich in deinen Entscheidungen von nichts und niemandem beeinflussen, nicht einmal von einem Sheson.«
Sie erwiderte seinen Blick noch einen Moment lang, dann lächelte sie schief. »Das sagst du mir jetzt …«
In der Dunkelheit des Mals teilten sie ein seltenes Lachen, leise und sanft. Mira kam der Gedanke, dass in dieser Gegend wahrscheinlich selten irgendjemand lachte. Danach saßen sie noch eine Weile in geselligem Schweigen beisammen, und beide schienen ein wenig leichteren Gedanken nachzuhän-gen.
Schließlich sagte sie erneut: »Leg dich schlafen. Ich halte Wache.«
Als Vendanji nickte, sah sie, wie seine Miene sich verfinsterte, als erwarte er böse Träume.
Im Mal schlief Vendanji nie gut. Noch mehr als der Verlust der Lebenskraft des Landes, mehr als die Erinnerungen an den Krieg, die noch Zeitalter später auf dem kahlen Boden zu spüren waren, machte ihm die Eigenschaft des Mals zu schaffen, die Menschen an ihre eigenen seelischen Verletzungen zu erinnern. Sheson waren da keine Ausnahme.
Als Vendanji zu den kalt flackernden Sternen aufblickte, wurde ihm bewusst, dass es nicht die nachhallende Macht der Stille war, die ihn quälte. Sondern die Leere und Hoffnungslosigkeit, die tief in diesem Land verwurzelt waren. Beinahe erinnerte ihn dieses Gefühl an den Born, den Vendanji mehr als einmal bereist hatte – ein Ort, den er nie wieder betreten würde, wenn es nicht unbedingt sein musste.
Denn die Erinnerung an einen längst vergangenen Augenblick stach und brannte wie ein Geschwür in seiner Seele, und jeder Besuch im Born riss die Wunde weiter auf.
Ebenso wie das Mal.
Vendanji rannte. Die Straßen von Confluven zeugten noch immer vom Angriff der Stilletreuen. Schwarze Brandmale zeichneten viele Häuser, manche waren völlig zerstört. Er glaubte, in einem weiter entfernten Stadtteil Rauch aufsteigen zu sehen, doch der mochte auch von einem Herdfeuer stammen.
Vendanji konnte jetzt nur an Illenia denken, seine Frau, und ihr ungeborenes Kind.
Er jagte wie von Sinnen die Straßen entlang und verfluchte sich dafür, dass er für den Rückweg von Decalam, wohin er in einer Angelegenheit des Ordens gereist war, zu lange gebraucht hatte. Er hatte mitgeholfen, Widerspruch gegen das neue Gesetz einzureichen, das den Sheson das Lenken des Allwillens verbot. Die Liga hatte das Gesetz für ganz Vohnce propagiert, und er hatte bei der Verhandlung vor der Regentin dagegen angekämpft. Bis zu Illenias Niederkunft sollte noch einige Zeit vergehen, deshalb hatte er keine Bedenken gehabt, sie ein paar Tage allein zu lassen. Außerdem war Illenia selbst eine Sheson. Sie konnte ebenso gut ohne ihn dienen.
Er bog in ihre Straße ab. Nein!
Die Mauern waren eingestürzt. Er stürmte zu ihrem Haus und schlüpfte durch die halb zerstörte Tür. Geborstene Balken und herabgestürzte Steine empfingen ihn. Er stemmte lange Dachlatten hoch und spähte unter Trümmerhaufen. Sie war nicht hier.
Doch seine Panik ließ nicht nach.
Er stürzte wieder hinaus auf die Straße und wollte damit beginnen, sie bei
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