Das Gift der Drachen Drachen3
heftig pochendem Herzen redete ich weiter, mit klarer und kräftiger Stimme.
»Wir sind ein freies Volk, frei von Hunger und vom Tempel. Jetzt müssen wir uns noch von unserer Ignoranz befreien. Ein Stab, der einen Schlag gegen einen Körper ausführen kann, kann auch gegen den Geist schlagen. Wir können die Enden unserer Stäbe anzünden und sie als Schreibgeräte benutzen. Wir brauchen keine Angst vor der Kunst der Gelehrten zu haben, ebenso wenig wie vor der der Schwertmeister. In dieser Brutstätte, unserer Brutstätte, werden wir die Macht des Lesens und Schreibens auch für uns beanspruchen.«
Das folgende Schweigen war so tief, dass ich jedes Flackern der Fackel, die eine Armlänge von mir entfernt war, hören konnte. Ich zitterte ein wenig, als ich mich wieder zu der Hauswand umdrehte.
»Dieses Symbol heißt Nieth «, sagte ich, während die Kohle über das Holz kratzte. » Nieth bedeutet, dass alle Dinge gleich sind. Es besteht aus den Zeichen für Bogen und Pfeil und Herz, weil das Herz, wenn es so mittig ausgerichtet wird wie ein Pfeil auf einem Bogen, ausbalanciert ist. Eben Nieth.«
Ich drehte mich wieder um.
Sie beobachteten mich scharf, während sich das Begreifen auf ihren Gesichtern abzeichnete. Sie lernten eine verbotene Kunst, und keiner würde sie davon abhalten. Keiner, nie wieder.
Sie begriffen endlich das ganze Ausmaß ihrer Freiheit.
Obwohl ich dasselbe göttliche Licht in den folgenden Wochen auf vielen anderen Gesichtern sah, ist es die Erinnerung an jene erste Nacht, die ich am meisten wertschätze. Meine Zeichen, mit Holzkohle, welche die Breite, Länge und Tiefe der Möglichkeiten beschrieben, die sie erwarteten. Ich hatte nicht nur einfache Symbole auf die Wand gekritzelt: Ich skizzierte eine gänzlich neue Zukunft.
Tage versanken in Nächten. Meine Übungspartner wechselten sich ab. Manchmal begleitete mich Piah, dann wieder Myamyo oder Keau. Gelegentlich nahm ich auch die alte Yimtranu mit, das alte Weib aus dem Medizinviertel, bei dem Savga und ich gehaust hatten. Sie war ein wahrer Quell medizinischer Geschichten, und ihr Wissen, das sie an die Frauen und Kinder weitergab, die sich am Rand der Zuschauer drängten, wurde wie Wasser von ausgedörrter Erde aufgesogen. Mütter gierten förmlich nach Heilmitteln für die eiternden Wunden und Ohreninfektionen ihrer Kinder, nach Wegen, Fieber zu senken, Schmerz zu lindern, die Geburt erträglicher zu machen. Yimtranu zeigte ihnen, welche Heilpflanzen sie in der Steppe und im Dschungel finden konnten, jetzt, da die Drachenjünger des Tempel sie nicht mehr dafür auspeitschen konnten und würden, dass sie vom Tempel verbotenen Künsten frönten. Manchmal erinnerten sich alte Frauen in der Menge sogar an Dinge, die Yimtranu schon vergessen hatte. Allmählich wurde das Wissen wiederbelebt. Befreit. Geteilt.
Ich arbeitete jeden Tag. Manchmal begleitete Savga mich, wenn ich im Arbiyesku war. Aber es war so viel Arbeit zu tun, und ich trieb mich so erbarmungslos an, dass ich drei Nächte von acht nicht im Arbiyesku schlief. Bäume mussten gefällt und vom Dschungelrand hierhertransportiert werden. Die Feuer mussten brennen. Land musste gerodet, Gemüse ausgegraben, Wasser geholt werden. Brutdrachen, die begonnen hatten, ihr Todeswachs abzusondern, mussten aus den Eierstallungen geholt und mittels Fesseln und Stäben dazu gebracht werden, sich zwischen den Feuern des Lagerhauses zum Sterben niederzulegen.
Dabei musste ich meine vernichtenden Giftentzugserscheinungen durchstehen und meine Sehnsucht nach dem Lied der Drachen ertragen.
Immer wenn ich schlief, träumte ich von Jotan Bri und der Ekstase auf ihrem Gesicht, als sie sich Sak Chidils giftigem Drachen dargeboten hatte. Seit ich in ihrer Villa das Drachengift genommen hatte, war ein Loch in meiner Seele aufgerissen, und ich fürchtete – oder war es vielleicht Hoffnung -, dass ich schwach würde und wie Jotan einen Weg finden würde, irgendeinen Weg, um mich regelmäßig der sinnlichen Heiligkeit von Gift und Drachenlied hingeben zu können.
Also entwickelte ich eine neue Sucht. Jeden Tag arbeitete ich im Arbiyesku, und jede Nacht streifte ich durch die Brutstätte, zog Hörer an, während ich Kampftechnik, die Kunst des Lesens und Schreibens, Yimtranus Heilwissen und meine radikalen Ideen verbreitete. Das ist typisch für Süchtige: Sie ersetzen eine Besessenheit durch eine andere. Arbeit ersetzte Gift. Die Lehre das Lied der Drachen.
Leute kamen, um mich zu sehen. Sie
Weitere Kostenlose Bücher