Das Gift der Drachen Drachen3
aufeinanderprallen werden. Unsere Streitmacht sowie die von Kratt und dem Tempel.«
Einer der sieben Männer stand auf und stützte seine Hände auf den Tisch. Seine Miene war nüchtern und eindringlich. Er wartete einen Moment, bevor er sprach. Der Mann war offensichtlich gewöhnt, die Aufmerksamkeit aller Anwesenden zu bekommen.
»Ich wäre ein Narr, würde ich ignorieren, was ich gesehen und gehört habe, und ich bin kein Narr. Aber jetzt ist die Zeit für Greifbares. Wir haben Tausende von Männern darauf vorbereitet, heute zu sterben, und wir müssen über Strategien reden, Fakten abwägen und rasch handeln.«
Die anderen knurrten zustimmend.
»Sagt uns, wie dieses Wesen, das Kratt befehligt, geschlagen werden kann«, verlangte der Mann von Gen. »Durch Feuer? Stahl? Brandsätze?«
Gen runzelte die Stirn. »Nein, nein und nochmals nein! Eine Shedwen-dar ist die Personifizierung von Leidenschaft. Wir müssen die Quelle dieser Leidenschaft ausradieren.« Er deutete mit seinem knochigen Finger auf den Tisch. Die Männer blickten alle auf das Bildnis meiner Schwester Waivia.
Mir blieb das Herz stehen.
»Das könnt Ihr nicht tun!«, stieß ich heiser hervor, als es weiterschlug. »Der Geist wird uns nicht einmal in ihre Nähe lassen. Genauso gut könnten wir uns selbst ins Feuer stürzen!«
»Das stimmt.« Gen sah mich mitfühlend an. Es war eine mächtige Geste von einem Mann, der selbst jüngst der Folter ausgesetzt gewesen war. Mitleid. »Aber wenn die Shedwen-dar in einen Kampf mit einem Himmelswächter verwickelt wird, unserem Himmelswächter, einem echten Himmelswächter, dessen Auftauchen prophezeit wurde, werden wir in der Lage sein, gegen Kratts Osmajani vorzugehen.«
»Ihr redet davon, meine Schwester zu ermorden.« Meine Stimme klang rau, und ich rang die Hände. Gen war einst mein Verbündeter gewesen, mein Mentor. Das war er nicht mehr. Er vereitelte nicht nur meine Bemühungen, meine Schwester zu beschützen, sondern er stieß mich selbst vollkommen aus seinem Zirkel der Macht.
»Osmajani, Schwester – das macht keinen Unterschied«, erklärte er.
»Sie hat ein Baby!«, stieß ich erstickt hervor. »Sie ist eine Mutter, eine Frau.«
»Leider, Zarq«, der Ausdruck in Gens Auge war mitfühlend, fast zärtlich, »kümmern sich der Tod und anderweltliche Mächte nicht um unsere Vorstellungen von Geschlechterrollen. Deine Schwester muss sterben.«
25
F rüher einmal – als ich noch ein Kind war, kaum vier, wenn meine Erinnerung mich nicht trügt … wahrhaftig, es muss so gewesen sein, denn Waivia war damals etwa dreizehn Jahre alt – ging ich mit meiner Mutter und meinem Vater zum Trauernden Fluss. Ich weiß nichts mehr von der sechstägigen Reise dorthin, genauso wenig wie von dem Rückweg. Ich weiß nicht, wie viele Töpfer vom Danku Re mit uns gingen, um Lehm vom Ufer dieses Flusses zu holen, und ich habe auch den Grund vergessen, warum ich mitging. Ich weiß nur noch dies: Wir waren eine Familie, Mutter, Vater und zwei Töchter, und standen in der Abenddämmerung am Ufer eines breiten, silbrig schimmernden Flusses. Unsere Eltern lächelten uns an. Ein kühler Wind wehte über den Fluss und ließ mich frösteln.
»Geht nur, planscht darin herum, wenn ihr wollt«, sagte Mutter, um mich zu ermutigen.
Vater lachte, entzückt von der Vorstellung. »Gute Idee. Planscht herum, spielt!«
Waivia sah mich grinsend an. »Komm, Zarq!«
So viele Erwartungen um mich herum, so viel Lächeln.
Eigentlich wollte ich nicht in dieses dunkle, silbrige Wasser gehen. Ein Fluss in der Abenddämmerung ist für eine Vierjährige, die noch nie in ihrem Leben einen Fluss gesehen hat, unheimlich, und außerdem war der Wind kühl. Aber da war Waivia, die mich angrinste. Mutter, die mich lächelnd aufmunterte. Und mein Vater, für den stellvertretend ich spielte.
Also ging ich ins Wasser, planschte herum, quietschte entsetzt, zitterte vor Kälte und lag anschließend auf Waivias Schoß zusammengerollt an einem Lagerfeuer, mit klappernden Zähnen. Ihre Arme waren warm. Sie kam mir so stark vor, so groß. Ich hörte ihren Herzschlag an meinem Ohr.
Wie kalt ein Fluss in der Abenddämmerung sein kann. Wie stark die Liebe einer Familie. Und wie beschützend die Arme einer Schwester.
26
A m zweiundfünfzigsten Tag des Monats Mwe Shwombei, im zweiundfünfzigsten Jahr von Imperator Mak Fa-Srens Herrschaft starteten die Sieben vom Großen Aufstand einen Luftangriff gegen die Streitkräfte, die sich kaum zehn Meilen
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