Das Gift des Sommers: Thriller (German Edition)
ich.
» Auf geradezu lächerliche Weise«, stimmte sie mir zu. » Sie könnten geradewegs aus einer Shakespearekomödie kommen, mit diesen bizarren Plots. Es ist so schade, dass Rex nicht schauspielern kann. Die beiden wären eine Hammerbesetzung für Was ihr wollt.«
» Dann ist er kein Theaterstudent?«
Sie lachte zynisch auf. » Rex? Der ist gar nichts.«
Ein neuer, unregelmäßiger Beat kam nicht aus den Lautsprechern, sondern von der Haustür. Eine Männerstimme, laut und zornig. Ich verließ die Tanzfläche, hockte mich auf den Treppenabsatz und spähte durch das Geländer. Die Kerzen waren schon lange ausgegangen.
» Was ist bloß los mit Ihnen hier?« Die Stimme überschlug sich; der Mann hatte Mühe, den Lärm zu übertönen. » Meine Frau ist schwanger !« Er trug ein T-Shirt und eine Jogginghose. Wahrscheinlich hatte er sich erst vor wenigen Augenblicken angezogen. Ich sah nur den oberen Teil seines Kopfs und fragte mich, ob er wusste, dass dort der Beginn einer kahlen Stelle zu sehen war, oder ob seine Frau dieses Geheimnis noch vor ihm bewahrte.
» So schlimm war es noch nie!« Seine Stimme schwoll zu einem Kreischen an. » Ich habe es in meinem Lärmtagebuch notiert, und wenn Sie den Krach nicht sofort abstellen, rufe ich die Polizei!«
» Wir machen gleich Schluss, Mr. Wheeler«, sagte Rex in sanftem Ton. » Es tut mir leid, dass wir Sie wach gehalten haben. Biba feiert ihren einundzwanzigsten Geburtstag, und deshalb sind wir ziemlich gut gelaunt.« Seine gefasste Haltung verstärkte die Hysterie des Mannes, und er fing an, sich zu wiederholen. » Es ist vier Uhr morgens, verdammt! Meine Frau ist schwanger!«
Es gab damals noch keine Einstweiligen Verfügungen wegen antisozialen Verhaltens, aber ich glaube, in diesem Augenblick nahm Wheeler sich vor herauszufinden, was es im Jahr 1997 an Entsprechungen gab. Als wir ihn das nächste Mal sahen, hatte er die einschlägigen Gemeindeverordnungen auswendig gelernt und konnte sie uns vortragen.
Ich rannte vor Rex zurück ins Herz der Party. Er wechselte ein paar Worte mit Chris am Plattendeck, zeigte auf seine Uhr und hob die flachen Hände: Tut mir leid, aber was soll ich machen? Alles war ganz plötzlich vorbei. Chris sagte, es gäbe noch einen Klub in Kings Cross, in den sie wahrscheinlich umsonst reinkämen, und da könnten sie tanzen bis mindestens neun Uhr früh. Er ließ seine Decks und seine Platten da, wo sie waren, und die meisten der übrig gebliebenen Gäste, unter ihnen auch das Mädchen namens Rachael und der Junge namens Guy, folgten ihm die Treppe hinunter und zur Tür hinaus wie die Kinder hinter dem Rattenfänger von Hameln. Der plötzliche Exodus ihrer Freunde schien Biba nichts auszumachen; sie begann in ernsthaftem Flüsterton ein Gespräch mit der dicken Frau auf dem Sofa. Stechende Eifersucht erfasste mich, und ich ging hinaus zu Rex auf den Balkon.
» Es ist schön hier«, sagte ich, um die Stille zu vertreiben. » Wie lange wohnt ihr schon hier?«
» Schon immer«, sagte er. » Ein anderes Zuhause kenne ich nicht. Meine Großeltern haben hier gewohnt. Und meine Mum.« Der Tonfall der letzten Worte lud nicht zu weiteren Nachfragen ein. Er rauchte eine Zigarette oder einen Joint, aber er tat es, um seine Hände zu beschäftigen, dachte ich, nicht wegen des Kicks. Das Requisit stand ihm nicht; er war von angespannter Nervosität, wie ein Bibliothekar kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Eine Brille, die ihm dauernd vom Nasenrücken rutschte und mit dem Mittelfinger wieder hochgeschoben wurde, wäre als nervöser Tick besser geeignet gewesen.
Das erste Tageslicht begann die Farbe des Waldes von Dunkelgrau in Grün zu verwandeln und zog eine Grenzlinie zwischen Baumwipfeln und Himmel. Der Wald zog sich meilenweit hin; nur ein paar Dächer und ein vereinzelter Kirchturm störten die Illusion von Ländlichkeit.
» Morgengrauen«, sagte er und schaute hinaus. » Ich hab’s immer komisch gefunden, dass der Tagesanbruch Morgengrauen heißt. Der Tag wird gerade erst gemacht, es ist der Anfang, der beste Teil: Man hat das gesamte Potenzial des bevorstehenden Tages noch und hat noch nichts vergeudet. Man sollte lieber sagen: Abendgrauen. Wenn der Tag grau wird und zerbricht. Wenn es Nacht wird, geht alles schief.«
» Ich weiß nicht«, sagte ich. » Ich wäre ganz zufrieden, wenn diese Nacht nie zu Ende gehen würde.« Der Blick, den er mir zuwarf, bereitete mir Unbehagen. Du wirst schon noch sehen, schien er zu sagen. Biba hatte
Weitere Kostenlose Bücher