Das Gift des Sommers: Thriller (German Edition)
leicht es ist, ein Kind vor der Welt zu verstecken.
Ungeschickt und unsicher tanzen wir um das Bett herum und wissen nicht, wer welche Seite beanspruchen darf. Rex und ich haben auf verschiedenen Seiten geschlafen, je nachdem, in wessen Zimmer wir waren. Er wollte immer an der Wand liegen. Aber hier ist weder links noch rechts eine Wand. Wir haben immer nackt geschlafen– für etwas anderes war es in dem Sommer zu heiß–, und jetzt starrt er den zusammengefalteten Schlafanzug an, den ich ihm gegeben habe.
» Hast du schon genug von mir?«, fragt er, und seine Brauen verschwinden unter einem Vorhang aus Haaren. Das Gegenteil ist wahr. Er hat zugenommen, und dadurch ist sein Kiefer weicher, der Adamsapfel ist besser eingebettet, und sein faszinierend gutes Aussehen ist auf ein Maß reduziert, das besser zu bewältigen ist. Seine Frisur ist zufällig modisch. Damals war es für Männer seines Alters Vorschrift, das Haar entweder sehr kurz oder lang und schlaff und in der Mitte gescheitelt zu tragen, und Rex sah immer deplatziert aus. Heute geben Männer Geld für Produkte aus, mit denen sie ihr Haar zu dem Gewirr von Tollen und Stacheln formen können, das er immer nur mühsam unter Kontrolle gehalten hat.
» Nicht meinetwegen«, sage ich. » Wegen Alice. Sie kommt nachts herein… Das habe ich dir erzählt.«
Alice hat fast jede Nacht bei mir geschlafen, seit sie alt genug war, um aus ihrem Zimmer in meins getappt zu kommen. Ich bringe sie jeden Abend in ihr eigenes und decke sie zu, aber nie wache ich allein auf, nicht einmal im Urlaub oder bei meiner Mutter. Jeden Morgen gegen vier zupft etwas an meiner Decke, und ein kleines Stimmchen fragt: » Darf ich reinkrabbeln?« Dann ringelt sie sich um mich herum. Ich merke es gar nicht mehr.
» Oh«, sagt er. » Das hast du mir erzählt. Ich hatte es vergessen. Ja, das könnte ein bisschen komisch sein.«
Rex weiß, dass zehnjährige Mädchen nicht zu nackten Vätern ins Bett steigen. Das Alter, in dem sie ihn unter der Dusche oder spät abends überrascht hätte, ist seit Jahren vorbei– eine Zeit der Unschuld, die Rex verpasst hat, genau wie das Windelnwechseln und ihre ersten Schritte. Jede Familie hat in diesen Dingen ihre eigenen Gesetze, ungeschriebene Regeln darüber, wo man nackt sein darf und wo nicht, die sich im Laufe der Jahre lautlos und organisch entwickelt haben. Wir dagegen sind unvermittelt dazu gezwungen, neue Regeln und Gesetze zu entwerfen, und zwar für jede Situation, die neu für uns ist.
Er schüttelt die gestärkte Pyjamahose mit den schmalen, bunten Nadelstreifen und das frische weiße T-Shirt mit dem dazu passenden Besatz aus und betrachtet die Sachen mit ausdruckslosem Blick, und ich weiß, dass ich für das Designerlabel Zeit und Geld verschwendet habe.
» Es wird noch viele solche Kleinigkeiten geben, nicht wahr?«, sagt er und kriecht auf der rechten Seite unter die Decke. » Fauxpas. Sachen, die ich nicht weiß. Dinge, die ich falsch mache.«
Ich versuche, ihn zu beruhigen. » Aber nur eine Zeit lang.«
Anstelle meines gewohnten Flanellschlafanzugs ziehe ich das blaue Trägerhemdchen und die Shorts an– ein befangener Kompromiss. Es ist jetzt zehn Uhr, und aus dem Schlafzimmer nebenan kommt noch kein Geräusch. Vielleicht wird Alice doch die Nacht durchschlafen. Rex sieht, dass ich auf die Uhr schaue.
» Aber mit ihrer Schlafenszeit hatte ich recht«, sagt er, und sein Tonfall ist eine Karikatur der Selbstgefälligkeit.
» Das war Glückssache.«
» Sie ist froh, dass sie mich wiederhat, glaube ich. Oder?« Ich liege auf dem Bauch, mit dem Kinn auf seiner Brust. Er seufzt so tief, dass ich noch einen Zoll tiefer im Bett versinke.
» Sie ist glücklich. Das sind wir beide.«
Auf der Straße fährt ein Auto vorbei, und ein Lichtstrahl streicht über den Schlafzimmervorhang und weckt die kurze Illusion eines Suchscheinwerfers, der über das Bett wandert, in dem wir liegen. Das leise Schnurren des Wagens verklingt in der Nacht. Dann hört man nur noch das leise Geräusch seines Atems und ein gelegentliches Rascheln vor dem Fenster. Als ich das letzte Mal bei ihm lag, in der Nacht, bevor es passierte, war es genauso– nur, dass damals das weiße Rauschen der A1 das Skelett der Stille überzog.
» Sollen wir es ihr sagen?«, fragt er plötzlich.
Wir wissen beide, dass es eine rhetorische Frage ist. Nicht ob, sondern wann wir es ihr sagen, müssen wir entscheiden. Sagen müssen wir es ihr, und zwar bald. Die Geschichte, die
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