Das Gift des Sommers: Thriller (German Edition)
sie kennt, ist nicht weit von der Wahrheit entfernt– dass es einen Streit gegeben hat, eine Panik, und dass zwei Leute gestorben sind, und obwohl Daddy kein böser Mensch ist, musste er ins Gefängnis und dort sagen, dass es ihm leidtut. Man muss ihr zugutehalten, dass es ihr nie schwergefallen ist, den Gedanken zu akzeptieren, dass auch ein guter Mensch im Gefängnis sein kann. Rex’ Charakter hat sie nie in Zweifel gezogen. Sie ist jetzt noch jung genug, um keine Fragen zu stellen. Manchmal glaube ich, ich habe sie gerade deshalb absichtlich jung gehalten. Aber nächstes Jahr wird sie zehn, sie wird die winzige Dorfschule verlassen, auf der sie so lange gehätschelt worden ist, und in eine große Gesamtschule gestoßen werden, wo ich sie nicht beschützen kann. Ein Geheimnis wie unseres wird immer mächtiger, je länger man es bewahrt.
» Du weißt, dass wir es müssen.«
» Aber jetzt noch nicht«, sagt er. » Können wir nicht vorher eine kurze Flitterwochenperiode haben? Zeit zum Eingewöhnen?«
Wie viel Zeit braucht er? Wie viel Zeit haben wir? Was ist, wenn mein rätselhafter Anrufer morgen beschließt, seine Karten auf den Tisch zu legen? Noch beschütze ich Rex vor diesen Anrufen und tue genervt, wenn schon wieder irgendein » Callcenter« beim Essen oder beim Fernsehen stört. In unserem Leben läuft eine Stoppuhr, aber das weiß nur ich.
» Ein, zwei Wochen werden nicht schaden«, räume ich ein. » Aber sagen müssen wir es ihr.«
» Was denn? Alles?«
» Herrgott, ich weiß es nicht.« Ich rutsche von Rex weg und stütze mich auf die Ellenbogen. » Ich habe zehn Jahre darüber nachdenken können, und ich weiß es immer noch nicht. Eine gekürzte Fassung der Höhepunkte?«
» Du kennst sie besser als ich«, sagt er nervös. » Für welche Teile ist sie alt genug?«
Jetzt muss ich seufzen.
» Ich weiß nicht, ob es darauf ankommt. Manchmal habe ich das Gefühl, ich bin immer noch nicht alt genug, um es zu verstehen, und ich war dabei.«
» Bitte sag das nicht.« Seine Stimme wird lauter, und sein Gesicht nimmt einen vertrauten Ausdruck an, den ich früher gehasst habe. Panik und Bedürftigkeit graben sich in die Furche zwischen seinen Brauen ein. » Du musst es verstehen. Wer sonst soll es denn verstehen? Niemand außer dir war dabei. Wenn du es nicht verstehst, wozu habe ich das alles dann getan? Wozu waren die letzten zehn Jahre dann gut?«
» Hey, es tut mir leid. So habe ich es nicht gemeint. Komm her.« Ich drehe mich auf den Rücken, und er rollt sich um mich herum wie ein Baby. Sein Atem verlangsamt sich zu einem leisen Schnarchen, aber ich bleibe hellwach.
Rex glaubt, das Gespräch mit Alice, das wir eines Tages werden führen müssen, sei die letzte Hürde, die er überspringen muss, bevor er sich entspannen und sein Leben wieder aufnehmen kann. Er denkt, es sei das letzte Problem, das noch erledigt werden muss. Natürlich irrt er sich. Es gibt noch ein weiteres, größeres Geheimnis, das nur ich kenne. Die eigentliche Frage ist nicht, ob wir es ihr sagen sollen, sondern ob ich es ihm sagen soll.
ACHT
B iba kam nicht durch die Haustür herein, sondern von hinten aus dem Garten wie die Kinder. Ich fragte mich, ob sie schon die ganze Zeit im Untergeschoss herumgeschlichen war, aber die Tasche unter ihrem Arm und die feuchte Strähne auf ihrer Stirn sprachen dagegen. Ich bemühte mich, mein Entzücken nicht allzu deutlich zu zeigen.
» Karen! Schön, dass du gekommen bist«, sagte sie, als hätte ich eine Verabredung eingehalten. Zur Begrüßung küsste sie mich auf den Mund, dann öffnete sie den Kühlschrank und schloss ihn wieder, ohne wirklich einen Blick hineinzuwerfen. » Bediene dich, wenn du was brauchst. Mi casa, su casa. Das war übrigens Spanisch«, sagte sie mit einem ironischen Unterton in der Stimme, bevor sie den Teig beäugte, an dem Nina arbeitete. » Was machst du da? Wie viele sind wir heute Abend beim Essen? Ich, du, Rex, Karen, die Kinder…« Bei jedem Namen ließ sie einen Finger hochschnellen, bis ihre Hand aussah wie ein Fächer ohne die Bespannung aus Spitze oder Papier. » Sind Tris und Jo da?« Nina nickte.
Mein Blick wurde abgelenkt: Ich sah und hörte ein Paar verschrammte Brogue-Schuhe, die draußen die Treppe hinaufschlurften. Ich hatte ihn erst einmal gesehen, aber ich wusste, dass dieser Gang, bei dem die Sohlen kaum den Boden verließen, Rex gehörte. Er ging eine Zeit lang über uns auf und ab, bevor er die knarrende Treppe herunterkam. In einem
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